Über das Fußende von Wickeltischauflagen stürzen Säuglinge auf den Boden

Foto: derStandard.at/Ruth Kager
Grafik: Große schützen Kleine
Grafik: Große schützen Kleine

Zur Person

Michael Höllwarth ist Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie
an der Medizinischen Universität Graz und Präsident des Vereins "Große schützen Kleine"

Foto: Univ.Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie/MedUni Graz

In Österreich passieren jährlich über 170.000 Kinderunfälle. Laut dem Verein "Große schützen Kleine" stirbt österreichweit jede Woche ein Kind an den Folgen eines Unfalls. Drei Viertel aller Kinderunfälle ereignen sich zuhause. Am Wickeltisch sorgen unachtsame Momente für gefährliches Unfallpotenzial und Kopfverletzungen bei Säuglingen, weiß der Grazer Kinderchirurg Michael Höllwarth.

derStandard.at: Die häufigsten Kleinkindunfälle passieren zuhause. Was sind die gefährlichsten Situationen im Alltag?

Höllwarth: Bei Säuglingen (bis zum ersten Lebensjahr, Anm.) ist der Sturz vom Wickeltisch häufig. Auch Verbrühungen beim Sitzen am Schoß von Angehörigen kommen vor, die Babys greifen in Tassen mit heißem Wasser. Im Krabbelalter können auch schon Stromverletzungen geschehen, wenn keine Steckdosensicherungen vorhanden sind.

derStandard.at: Wie sicher sind die so genannten Lauflernwägen?

Höllwarth: Ich bin gegen solche Wägen, weil sie gefährlich sind. Leider werden sie aber gerne verwendet, weil sich die Kinder meist damit wohlfühlen. Sie sind aber Quelle schwerer Unfälle: die Kinder erreichen damit eine relativ hohe Geschwindigkeit, können aber überhaupt nicht abschätzen, wo die Räder sind, können gleichzeitig aber kleine Schwellen überwinden und stürzen dann häufig über Treppen. Die Folge sind massive Kopfverletzungen.

Das zweite Problem ist, dass eine wichtige Phase in der Entwicklung übersprungen wird, nämlich das Krabbeln. Krabbeln ist aber sehr wichtig für das Körpergefühl, Babys lernen dabei wo ihre Körperteile, Knie und Füße sind. Mit den Wägen lernen die Kinder weder früher noch später zu laufen. Insofern ist schon der Ausdruck Lauflernwagerl ein Blödsinn.

derStandard.at: Bei den Säuglingen ist der häufigste Unfall der Sturz vom Wickeltisch. Übersehen Eltern Entwicklungsschritte der Säuglinge?

Höllwarth: Wir haben an der Klink in Graz fast jede Woche einen Wickeltischunfall. Die Kinder stürzen dabei meistens auf den Kopf, auf Parkett oder Fliesen, weil das der schwerste Körperteil ist. Die meisten dieser Unfälle passieren im ersten Lebensjahr. Was die Eltern oft nicht wissen: Auch Kinder, die sich noch nicht selber umdrehen können, können sich mit den Füßchen an der Wickelunterlage abstoßen und runterfallen. Eltern unterschätzen die Beweglichkeit des Säuglings.

derStandard.at: Sie haben an der Klinik Studien zum Hergang dieser Wickeltischunfälle gemacht. Was ist dabei herausgekommen?

Höllwarth: Wir haben Fragebögen an die betroffenen Eltern ausgeschickt und über 150 Wickeltischunfälle analysiert. In fast 60 Prozent der Fälle ist der Unfallort das Badezimmer, ein Viertel Kinderzimmer. Die Sturzhöhe beträgt bei 72 Prozent dieser Unfälle zwischen 80 und 110 Zentimeter - das ist doch erheblich. In der Hälfte der Fälle ist die Sturzrichtung über das Fußende.

Die Rolle der Wickelnden: Wasch- oder Kinderpflegeartikel waren nicht griffbereit, sie haben sich umgedreht und etwas gesucht oder waren abgelenkt. Die Entsorgung schmutziger Windeln, andere Kinder, zu Boden gefallene Gegenstände oder Vorbereiten des Badewassers waren die häufigsten Ablenkungsgründe. Tatsächlich reicht kurze Unaufmerksamkeit, es passiert so schnell!

derStandard.at: Welche Verletzungen erleiden die Säuglinge?

Höllwarth: Die Schwere der Verletzungen ist recht erheblich und ernst zu nehmen: 17 Prozent sind Schädelfrakturen, 15 Prozent andere Schädelhirntraumen, 65 Prozent Kopfprellungen. Andere Verletzungsarten sind selten.

derStandard.at: Wie gefährlich sind die Verletzungen und wie ernst sollen Eltern solche Unfälle nehmen?

Höllwarth: Es gibt keine Studien zu Langzeitfolgen, aber ich nehme an, dass es keine wesentlichen gibt. Allerdings ist eine Schädelfraktur bei einem Kind keine leichte Verletzung, auch eine Schädel-Hirnprellung ist nicht ohne. Wer will schon, dass ein Kind auf den Kopf fällt.

Passiert es doch, müssen die Kinder in jedem Fall in ein Spital gebracht und geröntgt werden, denn im Säuglingsalter sind Frakturen ohne Röntgen nicht nachzuweisen. Erst jenseits des vierten Lebensjahres kann man auf ein Röntgen verzichten. Im Spital wird das Kind neurologisch beobachtet, wenn es sich verschlechtert, kann man noch eine Computertomografie machen. Ist es neurologisch unauffällig, lässt man es wieder nachhause und bestellt es in zwei Monaten wieder zur Kontrolle.

derStandard.at: Wie werden Frakturen behandelt?

Höllwarth: Dafür gibt es keine speziellen Therapien, Frakturen wachsen normalerweise von sich aus wieder zusammen. Selten können wachsende Frakturen auftreten: nicht nur der Knochen bricht, sondern auch die dahinterliegende harte Hirnhaut zerreißt und der Liquor dehnt sich in diese Lücke hinein aus. Das führt dazu, dass die Fraktur nicht verheilen kann, sondern der Spalt sogar breiter wird. Das sieht man aber erst nach zwei, drei Monaten deutlich, daher sind die Nachfolgekontrollen im Spital wichtig. Tritt eine solche Komplikation auf, muss man operieren und das Loch in der Haut wieder schließen.

derStandard.at: Was raten sie Eltern, damit aus den rund 800 jährlichen Wickeltischunfällen in Österreich weniger werden?

Höllwarth: Alles vorher griffbereit haben, nie das Kind aus der Hand zu lassen. Wenn etwas ist, das Kind mitnehmen. Auch sehr einfach: das Kind am Boden wickeln. Es gibt auch Wickeltischunterlagen, die besser geeignet sind als die herkömmlichen. Diese sind nicht nur seitlich, sondern auch am Fußende erhöht. Wichtig ist auch, dass die Eltern schon in der Geburtsvorbereitung darauf hingewiesen werden, dass das gefährlich ist. (derStandard.at, 17.3.2010)