Alan Rusbridger: "Die größte Hoffnung für den Journalismus ist, dass die Chancen der Veränderung erkannt werden, anstatt die Veränderungen nur als Bedrohung anzusehen."

Foto: The Guardian

Alan Rusbridger, der Chefredakteur der britischen Tageszeitung "Guardian", spricht sich explizit gegen Bezahlschranken und bezahlte Inhalte im Internet aus und ist damit ein Gegenpol zu den mächtigen Verfechtern von Paid Content wie Rupert Murdoch, dem Axel-Springer-Verlag und auch der "New York Times". Der schlimmste Fehler sei es, sich durch Gedanken an Geschäftsmodelle lähmen zu lassen. Im Interview mit derStandard.at spricht er darüber, wie wichtig es ist, mit den Lesern in einen Dialog zu treten, warum das das Aus für Journalisten bedeutet, die nicht sehr gut sind, und warum es wichtig ist, neue Technologien auszuprobieren. Rusbridger erklärt, warum eine gedruckte Zeitung zwar erstrebenswert ist, aber warum er es nicht in seiner Macht sieht, wie lange der "Guardian" noch gedruckt wird. Die Fragen stellte Michael Kremmel.

derStandard.at: Sie haben bei einer Vorlesung die Existenz und den Wert von Journalismus in Frage gestellt. Existiert Journalismus in Ihren Augen noch?

Rusbridger: Auf jeden Fall, aber er verändert sich. Die größte Hoffnung für den Journalismus ist, dass die Chancen der Veränderung erkannt werden, anstatt die Veränderungen nur als Bedrohung anzusehen. Es ist für Zeitungen und den Journalismus eine erstaunliche Chance, wenn man die Möglichkeiten sieht, und ihnen offen gegenübersteht - wenn man Teil der ganzen digitalen Veränderung sein will, die beeinflusst, wie alle Menschen miteinander kommunizieren. Den schlimmsten Fehler, den man derzeit machen kann ist, paralysiert zu sein vom Gedanken, woher das Geld dafür kommen soll und darum versucht, finanzielle Barrieren für die Leser durchzusetzen, die einen abschneiden von der Welt.

derStandard.at: Was ist der Wert von Journalismus, verglichen mit den Amateuren, die sich auf ein Thema oder eine Region spezialisieren und darüber mit viel Detailwissen auf ihren eigenen Websites schreiben?

Rusbridger: Journalisten haben immer noch die Fähigkeiten, Dinge zu erklären und zu verifizieren, dazu kommen hohe ethische Standards und professionelle Richtlinien. Journalisten kommen auch an Quellen ran, die anderen nicht zugänglich sind. Zudem geben Zeitungen ihren Journalisten auch einen Schutz. Das ermöglicht Formen von Journalismus, bei dem Einzelpersonen in die Knie gehen würden. Wir sollten den Wert von Medienunternehmen nicht unterschätzen und das was wir machen. Wir sollten aber auch auf die Kraft und die Vielfalt der Leser zurückgreifen, um etwas noch Besseres zu machen.

derStandard.at: Wie sieht die Zukunft des Journalismus aus?

Rusbridger: Die Zukunft des Journalismus spielt sich hauptsächlich digital ab. Man muss offen sein und sich ansehen, wie diese digitale Welt funktioniert und davon lernen. Die Strukturen und das Verhältnis zum Publikum ändert sich. Das Publikum reagiert und partizipiert, das ist zwar der schwierigste, aber zugleich auch der aufregendste Bereich. Man muss ein Teil dieser Welt sein und sollte sie nicht ablehnen, indem man Barrieren und Mauern rund um sich aufbaut.

derStandard.at: Was sind die Vorteile aus diesen veränderten Beziehungen zwischen Publikum und Journalisten?

Rusbridger: Da gibt es ein einfaches Beispiel: Wenn man, um eine Theateraufführung zu besprechen, einzig und allein eine Kritik für die Zeitung schreibt, dann ist das eine Einbahnstraße. Diese Form des Publizierens investiert viel in die Autorität des Journalisten und verlangt von einem zu glauben, dass die Meinung des Journalisten von sich aus viel Gewicht hat. Das war die Position vieler Zeitungen bis vor fünf Jahren und bei manchen auch noch bis heute. Um es auf eine andere Weise zu sagen: Sicher haben auch viele Leser interessante Sachen zu dem Theaterstück zu sagen. Wenn wir ihnen nicht den Raum geben, das zu sagen, dann wird es jemand anderes tun. Am Ende wäre das dann der attraktivere Ort, um sich über das Theaterstück zu informieren als eine Zeitung.

derStandard.at: Was müssen Medienunternehmen also tun?

Rusbridger: Das Angebot an den Leser muss sich radikal verändern und wir müssen begreifen, dass Journalismus eher der Beginn eines Prozesses ist, anstatt dessen Ende. Das verlangt von einem Theaterkritiker beispielsweise, dass er seine Aufmerksamkeit den Lesern schenkt und fragt, ob diese etwas in dem Theaterstück gesehen haben, das er übersehen hat. Aber auch den Lesern zu antworten, sodass das Ganze mehr zu einer Art Dialog wird. Wenn Sie mir so weit folgen konnten, dann muss man natürlich überlegen, was das für die Politik-, Sport- Mode- und all die andere Berichterstattung bedeutet. Wir müssen überlegen, wie wir es dem Benutzer ermöglichen und erlauben, sich einzubringen. Das ist eine unglaubliche Revolution, wie sich Journalisten verhalten müssen. Eines der Hauptprobleme dabei ist, wie man gleichzeitig bei aller Ressourcenknappheit die Zeitungsproduktion aufrecht erhalten kann, weil man schlussendlich gleichzeitig zwei verschiedene Sachen macht.

derStandard.at: Ist die gedruckte Zeitung überhaupt noch notwendig?

Rusbridger: Ich glaube schon, auf jeden Fall ist eine gedruckte Zeitung etwas Erstrebenswertes. Es ist ein intensiv bearbeitetes Produkt, das einem einen praktischen Blick über das Weltgeschehen liefert und enorme Auswirkungen auf hunderttausende Menschen hat, in dem Moment, in dem es publiziert wird. Das ist etwas sehr mächtiges. Ich hoffe, Zeitungen überleben. Viel wichtiger aber ist es, sich die Frage zu stellen, ob der Journalismus überlebt. Das ist viel wichtiger, als die Frage ob ich ihnen Informationen vor die Haustüre liefere oder anders zukommen lasse.

derStandard.at: Wie können die Beziehungen zum Publikum im Alltag effektiv genutzt werden?

Rusbridger: Da sind wir wieder beim Beispiel der Theaterkritik: Wenn man statt einer Theaterkritik dreihundert Kritiken hat, dann hat man eine wertvolle Konversation über das Theater. Wir nutzen die Beziehungen zu unseren Lesern aber auch immer mehr für investigative Berichte, bei denen wir Dinge recherchieren, die ohne die Öffentlichkeit nicht möglich wären. Zum Beispiel viele Dokumente durchsuchen oder Augenzeugen zu bestimmten Ereignissen zu finden. Es gibt viele Leute beim "Guardian", die so versuchen zu arbeiten, manches funktioniert nicht, anderes wiederum funktioniert auf sehr interessante Weise.

derStandard.at: Welche Auswirkungen hat diese Arbeitsweise?

Rusbridger: Die Leser erzeugen einen Druck auf die Journalisten, sodass diese zeigen müssen, dass sie wirklich gut sind. Da muss der Journalist mehr darauf achten, dass beispielsweise seine Theaterkritik wirklich gut ist. Das entblößt vor allem Journalisten, die nicht sehr gut sind. Deshalb werden Journalisten, die nicht sehr gut sind, in diesem Job auch nicht mehr bestehen können. Was die Interaktion mit dem Publikum aber auch zeigen soll ist, dass wenn unsere Journalisten gute Einblicke haben und besonders gut schreiben können, dann werden sie die Menschen weiter wertschätzen. Wenn wir das nicht beweisen können, dann gibt es keine Möglichkeiten, dass Menschen für das bezahlen, was wir machen. In Großbritannien haben wir beispielsweise Websites, auf denen Kunstliebhaber, darunter einige ehemalige Journalisten, schreiben. Die Chance für diese Websites zum Erfolg ist, dass wir Bezahlschranken für unsere eigenen Inhalte errichten. Das ist deren größte Chance für ein Geschäftsmodell. Warum sollten Leute bezahlen, um davon abhängig zu sein, was eine Person sagt, wenn er oder sie nicht sehr viel besser ist als alle anderen? Insbesondere dann, wenn ich die Information von jemand anderem gratis bekomme.

derStandard.at: Wenn die "New York Times" und Rupert Murdoch erfolgreich sind mit ihren Plänen für Inhalte Geld zu verlangen, wird der "Guardian" ihren Modellen folgen?

Rusbridger: Man muss bescheiden sein und auch sagen können, dass wenn sie damit einen bemerkenswerten Erfolg haben werden, dann beweisen sie, dass man es machen kann. Ich glaube, eines der vielen wichtigen Dinge in der digitalen Welt ist, dass man bereit ist, seine Meinung zu ändern. Wir sind alle am experimentieren. Ich werde sicher nicht für immer auf meiner Meinung beharren, wenn sie falsch ist. Für mich fühlt es sich aber nicht so an, als ob Bezahlschranken der richtige Weg sind.

derStandard.at: GNM, der Herausgeber des "Guardian" hatte 2009 einen Verlust von 36,8 Millionen Pfund zu verzeichnen. Wenn Sie gegen Bezahlschranken sind, sehen Sie andere Geschäftsmodelle, um wieder profitabel zu werden?

Rusbridger: Einer der Gründe, warum der "Guardian" einen Verlust macht, ist der ungewöhnliche Markt in Großbritannien. Es gibt hier Leute, zum Beispiel ehemalige KGB-Männer, die Zeitungen subventionieren, die Verluste machen. Der "Guardian" ist generell profitabel, aber in den letzten Jahren mit der Rezession ist er ins Minus gerutscht. Sicher denken wir über Geschäftsmodelle nach. Wir haben aber die Ausgangssituation, dass wir derzeit 25 Millionen Pfund im Jahr digital erwirtschaften. Wir können die Zahlen nicht besser machen, indem wir unser Wachstum dadurch eindämmen, dass wir eine Abogebühr verlangen und uns von den Lesern wegbewegen. Wir würden viel weniger Geld bekommen, als wir das heute durch Werbung tun. Unsere Hoffnung ist, dass wir neue, innovative Wege finden, sodass wir durch Werbung einen genügend hohen Fluss an Erträgen haben.

derStandard.at: Die iPhone-Applikation des "Guardian" hat sich innerhalb von zwei Monaten mehr als 100.000 Mal verkauft. Ist das ein positives Signal für die Zukunft oder eher deprimierend, da die Zahl weit weg ist von den 37 Millionen Benutzern, die sich auf den Websites des "Guardian" informieren?

Rusbridger: Das hängt mit der Frage zusammen, kann man überhaupt Geld für die Inhalte verlangen? Ich bin nicht gegen jede Form der Bezahlung und ich halte diesen Beginn für ein ermutigendes Zeichen. Ich glaube, mobil akzeptieren das die Leute mehr. Ob man deswegen sagen kann, dass die Leute etwas mehr als zwei Pfund bezahlen wollen, um den "Guardian" für immer gratis zu bekommen, halte ich für zweifelhaft. Wir müssen unsere Schlüsse daraus ziehen und uns überlegen, wie man damit umgeht, um gerüstet zu sein wenn beispielsweise das "iPad" kommt und die Spielregeln ändert.

derStandard.at: Sie sagen, Medienunternehmen, die kleiner werden, sind nicht unbedingt etwas schlechtes, da sich die Unternehmen sowieso darauf konzentrieren sollen, was sie am besten können. Wo ist der "Guardian" am besten?

Rusbridger: Das ist eine Frage der Prinzipien: Wenn man offen gegenüber dem Rest der Welt ist, dann muss man nicht über alles berichten. In der alten Welt gab es sehr viele Duplikate und die Leute haben identische Geschichten geschrieben. In der neuen Welt kann man immer öfter sagen, die Geschichte gibt es schon und das respektiere ich und ich werde meine Zeit darauf verwenden, etwas anderes zu machen. Es wird also teilweise weniger Duplikate geben. In der digitalen Welt müssen wir mehr Entscheidungen treffen, über welche Themen wir berichten wollen. Beim "Guardian" glauben wir, dass wir sehr gut sind bei Kultur, Medien, Technologie, Sport und Wirtschaft und es gibt manche Themen, von denen wir glauben, dass wir sie gut abdecken können. Wir werden aber vielleicht die Ereignisse rund um den Finanzmarkt der City nie so gut abdecken können wie das die "Financial Times" oder das "Wall Street Journal" machen.

derStandard.at: Viele Dinge, die in der Medienwelt derzeit passieren, gehen von Technologieunternehmen aus. Bestimmen Technologieunternehmen die Zukunft des Nachrichtengeschäfts?

Rusbridger: Wir beschweren uns alle darüber, dass sich Google ungeheuerlich verhält. Aber Google macht viele gute Sachen und bringt viel Publikum zu unserem Journalismus und sie haben es Online etabliert, Werbung gegen Inhalte zu verkaufen, sodass man Geld damit verdienen kann. Das Problem ist, dass sie das machen, und wir nicht. Ein Argument sich nicht über Google aufzuregen ist, zu versuchen, so gut zu sein wie Google und herauszufinden, wie die Technologie funktioniert. Die Technologieunternehmen verstehen es aber eher als die Inhaltehersteller, diese neue Welt zu verstehen.

derStandard.at: Zwingen Sie Ihre Journalisten, sich mit neuen Technologien auseinanderzusetzen?

Rusbridger: Nein, ich zwinge Sie nicht. Was ich aber gemacht habe, ist alle Abteilungsleiter dazu zu bringen, sich einen Facebook-Zugang zuzulegen, während andere Unternehmen daran arbeiteten, es ihren Mitarbeitern und Journalisten zu verbieten. Ich ermutige sie beispielsweise, auf Twitter zu schreiben, denn solange man kein Verständnis für diese Art der Kommunikation hat, wird man als Zeitung Probleme bekommen.

derStandard.at: Sie haben nicht unbedingt die meist verbreitete Ansicht zum Thema Bezahlinhalte. Werden Sie von anderen Medienschaffenden dafür kritisiert?

Rusbridger: Ich hatte eine große Rede zum Thema Bezahlinhalte vor etwa einem Monat, in der ich meinen Standpunkt klar vertreten habe und Rupert Murdoch gesagt habe, dass es Bullshit ist. Ich glaube, Journalisten begrüßen die vielen Debatten zu dem Thema. Die Argumente derer, die für Bezahlinhalte eintreten, werden überall verstanden. Ich glaube, viele waren froh, dass auch jemand einen anderen Standpunkt eingenommen hat. In Zeiten in denen mögliche Geschäftsmodelle vor allem ein Gefühl sind, ist es wichtig, dass auch andere Meinungen geäußert werden.

derStandard.at: Wann wird der "Guardian" nur mehr online erscheinen?

Rusbridger: Das weiß ich überhaupt nicht, und sehe auch nicht, dass die Entscheidung darüber in meiner Macht steht. Darum mache ich mir auch keine Gedanken darüber. Ich weiß nicht, was Steve Jobs oder Apple als nächstes macht oder welche Auswirkungen Produkte wie der "Kindle" haben. Meine Aufgabe beim "Guardian" sehe ich so, dass ich die Inhalte in der Form verfügbar machen muss, die sich die Leute wünschen. (Michael Kremmel, derStandard.at, 14.03.2010)