Cover: Haymon Verlag

Der österreichische Verlag innsbruck university press eröffnet dieser Tage eine neue Belletristikreihe, die edition laurin. Den Auftakt macht - zusammen mit zwei anderen - ein Buch mit dem Titel In Wirklichkeit sagte ich nichts. Ein Erzählband. Autor: Wolfgang Hermann. Sicher ist: Wenn die Reihe so weitergeht, wie sie beginnt, darf man staunen und froh sein - und sich ihren Namen merken.

In Wirklichkeit sagte ich nichts umfasst neun Texte von ganz unterschiedlicher Länge. Einmal geht es über mehr als 40 Seiten, dann wieder lediglich über einige wenige, drei, vier, zehn. Die meisten davon sind in fremden, manchmal namenlosen Ländern angesiedelt. Bereits die erste, längste, Erzählung nimmt den Leser mit ein, zwei sanften Flügelschlägen - den ersten Absätzen - mit in ein fremdes Land: Tunesien. Es ist Nacht, eine Tunesische Nacht, und der Erzähler steht am Fenster seiner im siebten Stock eines Hochhauses gelegenen Vorstadtsiedlungswohnung (die Stadt im Südosten ist Tunis) und blickt hinaus.

Er sieht der Nacht ins Gesicht - und redet davon, was er zwischen den Lichtern, Leuchtschriftzügen sieht: Die Erzählung ist aufgespannt zwischen Lichtern in einer tunesischen Nacht. Aus dem Dunkel tauchen schwerelose Bilder auf, Erinnerungen an Bekanntschaften, an Gänge durch die fremde Stadt, an Bar- und Restaurantbesuche, ans Betrogen- und Ausgenommenwerden ("Wahrscheinlich halten sie mich für einen Idioten. Ich weiß, was kommen wird. Ich möchte es erfahren."), an den einzigen einheimischen Freund, dessen Erzählungen - und endlich an die Frau, von der man nicht erfährt, ob sie in der "Nordstadt" zurückgelassen wurde oder freiwillig zurückblieb. Sie ist es, an die sich die Erzählung richtet: Es lebt, es ist da, es ist noch nicht verloren, mit wem man spricht. Während die Bilder erstehen und vorbeischweben, vergeht allmählich die Nacht. Mit jedem Bild wird das Schwarz heller - als wäre das die Wirkung der Bilder. Erzählen, um das Dunkel zu vertreiben. Erzählen, um zu hoffen. Als die Dämmerung kommt, lösen die Bilder sich darin auf. Schließlich starten die ersten Wagen. Die Nachtgeräusche verschwinden, die Hunde verstummen.

Der zweite, dem Band seinen Titel gebende Text ist als Bühnen-Monolog gedacht. Ein Mann, heruntergekommen, aus dem Leben gefallen, obdachlos, versoffen, hockt auf einem Gitter über einem Pariser Métro-Schacht und denkt über die vorbeihastenden Männer und Frauen, sich selbst und die Flasche, Gott und die Welt nach.

Er hat einmal dazugehört. Er war einmal wer. Es gab eine Frau, die bekannte, mit ihm alt werden zu wollen. Einst war alles selbstverständlich und nicht einmal der Rede wert. Als die Frau plötzlich weg war, stimmte nichts mehr, die Dinge stimmten nicht mehr mit sich selbst überein: "Ich legte den Lichtschalter um, doch erst ein, zwei Atemzüge danach hörte ich das Klicken, und das Licht sprang an." Er ließ die leere Wohnung hinter sich und kam an die Ecke, an der er nun sitzt. Fast aus dem Leben gefallen, aber nur fast: Er hat sich in die Zwischenräume zurückgezogen. Er achtet auf die Zwischenräume, sieht, vielleicht als Einziger, dass es sie gibt. "Alles tritt zweifach auf, einmal als Körper, einmal als Schatten. [...] Jetzt ist der Vogel auf der Platane gelandet. Für mich fliegt er noch immer, im Zwischenraum." - Dem Monolog vorangestellt ist ein Zitat des Naturphilosophen Demokrit: "Weder das Süße noch das Bittere existiert, sondern nur die Atome und die Leere zwischen den Atomen." Heißt Zitieren sich selbst zitieren? In den Lücken zwischen den Wörtern geschieht laut Wolfgang Hermann das Leben, das nicht aussagbar ist.

Die Erzählung Die Treppe ist die Geschichte eines Abschieds, eines Auseinanderfallens. Mann und Frau werden wieder zu Mann und Frau. Sie bleibt nur noch, weil er plötzlich krank wurde und nun hilfsbedürftig ist. Weder aus Liebe noch aus Erbarmen, sondern nur aus wie automatischem, entnervt-stummem Mitleid mit einem momentan Hilflosen: Sie kocht abends wieder für ihn - wie seit langem nicht.

Zwischen ihnen gibt es keine Spur eines Anfangs mehr - alles ist bereits Ende. Das Auseinanderfallen ist vollzogen; und der endgültige Abschied ist nur gestundet. Jedoch beginnt zugleich etwas Neues, in das die Frau schon nicht mehr einbezogen wird, weil sie über die Kluft hinweg nicht mehr einbezogen werden kann: Der Mann, eben aus dem Krankenhaus entlassen, bekommt eine neue Freude an der Welt. Heimlich und wenn die Frau im Büro ist, schleicht er sich aus dem Haus. Anfänglich ist die Treppe eine gewaltige, unüberwindliche Hürde, doch er gewinnt täglich an Kraft und überwindet sie schließlich. Dann ist er draußen, auf der Straße. Er "bemerkt, dass er frei ist" . Er kann sich "nicht sattsehen. Nicht sattriechen." Was ist am Ende stärker: die Freude, überlebt zu haben und frei zu sein - oder die Trauer, die Beklemmung, nach dem Überleben allein in dieser Freiheit weiterleben zu müssen? Es bleibt ungesagt; vielleicht gibt es keine Antwort darauf - und wenn doch, widersteht Hermann der Versuchung, sie auszusprechen. Das bedeutet zugleich: Er weist niemandem Schuld zu. Das tut er übrigens nie.

Dann ist da ein Text über den Tod und darüber, dass er einem die Sprache verschlägt. Der Erzähler berichtet davon, seit dem Tod seines Sohnes nicht mehr einfach "ich" sagen zu können. "Meistens bin ich nicht da. [...] Man verschwindet und bemerkt es nicht. Man ist niemand." Eine andere, rätselhafte Erzählung, die etwas wie ein Krimi auf kleinem Raum ist. Sie heißt: Um die Stille zu durchschneiden. Ein Text über einen vermeintlichen Müßiggänger, der aber, ohne dass jemand es bemerkte, durch sein ewiges Dasein und Sitzen und Anteilnehmen einen ganzen Park auf seinen Schultern trägt - "... und wenn der Wind in die Bäume fährt, dann wird alles leicht" . So geht dieses Buch einhundertdreißig Seiten lang dahin. Neun Erzählungen. Unmöglich, sie einfach nachzuerzählen. Und wenn man es doch versucht, verlieren sie ihr Geheimnis deshalb trotzdem nicht. Sie zu lesen ist ein seltenes Glück.

Wolfgang Hermann, 1961 in Bregenz geboren, hat eine ganz eigene Sprache; und er hat sie nicht erst jetzt oder vor kurzem gefunden, sondern hatte sie schon von Anfang an - wurde nämlich vielmehr von ihr gefunden. In allen seinen Büchern, und es sind bald zwanzig, die er seit 1987 veröffentlicht hat, begegnet man ihr. Es ist eine sehr präzise und zugleich herrlich kreative Sprache, die nichts auslässt. Es ist, als drängte sich alles, von ihr benannt zu werden, weil es weiß, dass es nicht bleiben kann. Und so, benannt, bleibt es doch.

Es sind Erzählungen, doch es sind nicht die Spannungsbögen, sondern die Sätze, an denen ich hänge und mich nicht sattlesen kann, Sätze wie nur beispielsweise dieser: "Um sie war eine Stille wie dunkles Licht." Hier wird uns etwas vom Licht und den Lichtern erzählt. In allen Texten auffällig: diese ewige faszinierte und faszinierende Fixiertheit aufs Licht. Der Autor, ein Maler.

Hermann hat keine der gerade angesagten Taschenspielertricks auf Lager. Er, als einer - so viel kann ich sagen - der sprachmächtigsten deutschsprachigen Schriftsteller, muss von nichts ablenken. Nicht, dass die Geschichten keine Bögen hätten, das haben sie; aber die Bögen sind nicht das Wichtige. Und es ist nicht einmal wichtig, dass es einzelne Geschichten sind. Am Ende hat man ohnehin das Gefühl, einen Text gelesen zu haben - alles gehört zusammen, wird zusammengehalten von einer heiteren Wärme, die - wie es anders sagen? - Liebe heißt, Liebe zum Leben, Dasein, trotz allem. Wer sich auf diese Literatur einlässt, wird mit dieser Wärme belohnt, die beständig zwischen den Zeilen strahlt - ja, wie ein eigenes Licht. (Reinhard Kaiser-Mühlecker, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 13./14.03.2010)