Gülhiri Aytaç (li.) und Tülay Tuncel fanden beim dieStandard.at-Streitgespräch wenig Gemeinsamkeiten in Bezug auf Feminismus, Religion und Vorbilder für türkische Frauen.

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Türkischstämmige Frauen stehen oft im Zentrum hitziger Debatten - kaum eine TV-Nachrichtenbeitrag über Integrationspolitik, der ohne Bilder Kopftuch tragender Frauen auskommt. Befragt werden diese Frauen allerdings nie. dieStandard.at hat zwei türkischstämmige Lehrerinnen aus Wien, Gülhiri Aytac und Tülay Tuncel, zum Gespräch  eingeladen.

dieStandard.at: Feiern Sie den 8. März?

Aytaç: Ich feiere ihn, weil er der Geburtstag meines Mannes ist. Mein Mann ist ja auch feministisch interessiert - durch mich vielleicht, da haben wir doppelt zu feiern.

Tuncel: Der 8. März ist mein Valentinstag. Man kann sich von anderen Frauen mehr Aufmerksamkeit erwarten. Und die Frauen, die diesen Tag bewusst erleben, gehen auch sonst bewusster durch die Welt.

dieStandard.at: Ein Feiertag ist immer auch Anlass, Bilanz zu ziehen. Was lohnt es sich, am Frauentag zu feiern - was gäbe es noch zu erreichen, damit unsere Töchter es einmal feiern können?

Aytaç: Ich lasse mich nicht feiern am Frauentag, dafür gibt es andere Tage. Aber es ist ein Tag, um zu thematisieren. Mein Wunsch ist, dass es ein Tag wirklicher internationaler Frauensolidarität wird. Frauen sollten versuchen weltweit voneinander zu lernen - und nicht, die große europäische Schwester zu spielen.

dieStandard.at: Sind westliche Frauenbewegungen überheblich?

Aytaç: Ich denke schon. Wenn nicht-westliche Frauen ein anderes Bild von Emanzipation und von Frausein haben, dann sollte man das auch respektieren. Nicht jede Frau, die gern zu Hause ist und Kinder bekommt, ist zum Feminismus zu bekehren. Sie hat ihren Weg so gewählt und wenn sie damit glücklich ist, dann soll man nicht sagen "Oh, die Arme, die müssen wir erst zwangsbeglücken."

Tuncel: Die westlichen Frauen dürfen Feministinnen aus muslimischen Ländern nicht belehren und glauben, ihnen von oben herab den Weg weisen zu müssen. Sie müssten die Frauen von innen heraus zu stützen, damit sie selbst ein System entwickeln. Und das geht mir ab. Auch die westlichen Frauen haben ihre Dinge nicht in fünf Jahren erreicht.

dieStandard.at: Und wofür sollte die Frauenbewegung speziell kämpfen, wenn es um türkischstämmige Frauen geht?

Tuncel: Tatsache ist, dass die westliche Frauenbewegung viel erreicht hat - das Wahlrecht, die gesellschaftliche Akzeptanz der Frau auf allen Ebenen. Aber ich gebe Frau Aytaç Recht, dass die westliche Frauenbewegung es verabsäumt hat, Frauen aus anderen Gebieten einzubinden. Frauen, die bei Scheidungen benachteiligt werden, weil die Familie des Mannes sich das Recht nimmt, die Kinder zu beanspruchen. Denn es ist klar, dass diese Frauen migrieren, und dass uns das alle angeht. Und vieles von dem, was die westlichen Frauen schon abgehakt haben, taucht jetzt auch im Westen wieder auf - Stichwort Gerichtsurteile, die es legitimieren, wenn türkische Ehemänner gewalttätig werden.

dieStandard.at: Frau Aytac, wie frei sind denn Frauen bei ihrer Entscheidung, Hausfrau zu werden? Herrscht hier Wahlfreiheit?

Aytaç: Diese Wahlfreiheit muss man erst einmal schaffen. Wenn wir sehen, dass Frauen nur über ihre Ehemänner einen Aufenthaltstitel erhalten, wie derzeit in Österreich der Fall -ist das Wahlfreiheit? Wenn Hausfrauen kein eigenes Einkommen haben, ist das Wahlfreiheit? Man sollte schauen, dass auch Hausfrauen ihre eigenes Einkommen haben. Sie leisten ja gesellschaftlich sehr wichtige Arbeit.

dieStandard.at: Wäre das nicht ein Anreiz, Frauen aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen?

Aytaç: Man kann das sicher das bildungsmäßig so rüberbringen, dass Frauen nicht gezwungen sind, am Herd zu stehen, um ein gewisses Einkommen zu haben. Dass sie aber auch nicht sanktioniert werden, wenn sie sich dafür entscheiden.

dieStandard.at: Werden sie sanktioniert?

Aytaç: Ja, man ist ja irgendwie eine Loserin, wenn man keinen Beruf hat, den ganzen Tag zuhause ist und vor allem kein eigenes Einkommen hat.

Tuncel: Zurück zur Frage, ob die westlichen Frauen überheblich sind - ich glaube, dass das zum Teil auf Gegenseitigkeit beruht. Wir kennen das ja: Auch die islamische Welt will sich von westlichen Feministinnen nichts sagen lassen, weil sie deren Frauenbild nicht für richtig halten. Aber wir sollten den individuellen Bereich verlassen: Es geht ja gar nicht darum, ob es politisch korrekt ist, zuhause zu bleiben und zu kochen. Es geht um die Wahlfreiheit. Bin ich an die Zustimmung der männlichen Familienmitglieder gebunden, oder kann ich mich frei entscheiden? Was passiert, wenn die Frau sich ausklinkt aus der Familie, was gibt es dann für Sanktionen? Und deckt der Staat das?

dieStandard.at: Was würden Sie als Feministinnen tun, um jungen Muslimas möglichst große Wahlfreiheit zu garantieren?

Aytaç: Mein Prinzip ist: Es gibt keinen Zwang im Glauben und in der Lebensweise. Im Islam gibt es auch das Bildungsgebot. Sich zu bilden, ist eine lebenslange Pflicht. Ich kenne Frauen, die vier Kinder haben und studieren.

dieStandard.at: Was, wenn ein 17-jähriges, unverheiratetes Mädchen in einer gläubigen Familie schwanger wird?

Aytaç: Das hängt sicher von den einzelnen Familien ab. Ich kann hier nicht Stereotype wiedergeben. Wir würden einen starken Kulturrassismus ausleben, wenn wir sagen würden, in muslimischen Familien spiele sich das so oder so ab. Das ist individuell verschieden.

dieStandard.at: Es ist statistisch belegt, dass die Erwerbsbeteiligung türkischstämmiger Frauen erheblich geringer ist als im Schnitt. Sind das auch alles individuelle Entscheidungen?

Aytaç: Wenn muslimische Frauen den Wunsch haben, einen Beruf auszuüben, dann sollen sie das auch tun. Es spricht religiös bedingt nichts dagegen. Viele Frauen würden gerne arbeiten, werden aber wegen des Kopftuchs diskriminiert. Und andere finden keine Jobs oder sind nicht genügend qualifiziert. Da muss die Bildungspolitik eingreifen. Wenn ich nur die Möglichkeit habe, als Putzfrau zu arbeiten, werde ich wahrscheinlich eher zuhause zu bleiben, als wenn ich als Fachfrau arbeiten kann.

Tuncel: Tatsache ist, dass es seit den besagten GastarbeiterInnen-Bewegungen wenig sozialen Aufstieg gegeben hat. Und in manchen Schichten ist der Aufstieg der Frau gar nicht erwünscht, weil er mit einer stärkeren Autonomie verbunden wäre. Patriarchale Männer brauchen abhängige Frauen, um ihrer Rolle zu legitimieren. Bei uns in der Erwachsenenbildung haben wir viele Frauen, wo die Männer nach dem Kurs vor der Tür warten, um die Frau mit nachhause zu nehmen. Und das wird ja der nächsten Generation weitergegeben.

dieStandard.at: Inwiefern?

Tuncel: Vergangenen Sommer sind ein paar Schülerinnen nach den Ferien nicht mehr zurück gekommen, und bei anderen hat sich der Name geändert, weil sie in der Türkei geheiratet haben und den Mann nach Österreich holen. Das ist auch total legitim. Aber es treten dadurch Probleme in den Ehen auf, wo die zubetonierten Rollen und die Unterschiede in den Weltanschauungen aufeinanderprallen, weil die Frau sich frei bewegen will.

Aytaç: Ist es denn so ein großes Problem, wenn Frauen nicht berufstätig sein wollen? Und gerade Altenpflege oder Kinderbetreuung, also Jobs, die vor allem für Migrantinnen vorgesehen sind, sind ja nicht unbedingt attraktiv.

Tuncel: Wir müssen unterscheiden. Junge Migrantinnen sind oft topqualifziert, arbeiten im Import-Export, sind wegen ihrer Mehrsprachigkeit gefragt am Arbeitsmarkt. Aber andere entscheiden sich, zu Hause zu bleiben. Und sehr oft sind diese Entscheidungen nicht freiwillig.

Aytaç: Vielleicht lebe ich in einem exklusiveren Umfeld. Aber ich kenne keine Familie, die es nicht gerne sieht, dass die Tochter schnell etwas verdient. Wir leben ja nicht in den 40ern, wo es nicht gern gesehen wird, wenn eine Frau Arbeiten geht.

Tuncel: Für mich ist mein Freundeskreis nicht entscheidend. Das ist, hochnäsig gesagt, die Elite der Migrantinnen. Aber ich arbeite auch bei der sozialen Gerichtshilfe. Und heute hatte ich Kontakt mit einem Mann, der den Nebenbuhler seiner Frau umgebracht hat, weil er eine Affäre vermutete, für die er keine Beweise hatte. Wenn man mit der Basis in Verbindung kommt, weiß man, dass es mehr gibt, als das eigene Umfeld. Man muss auch nach unten schauen.

Aytaç: Ich schaue nach unten, aber MigrantInnen sind für mich nicht nur die, die als KlientInnen in irgendwelchen Beratungszentren sitzen. Und Männer, die Nebenbuhler abstechen, findet man auch in der Mehrheitsgesellschaft. Es ist falsch, nur aus einem gewissen Milieu heraus zu argumentieren.

dieStandard.at: Was sind für Sie spezifische frauenpolitische Forderungen für die türkische Gemeinde in Österreich?

Tuncel:  Es wäre wichtig, die Rollen der Frauen in Frage zu stellen. In diesen Communities ist es egal, wer in einer Paarbeziehung arbeiten geht - die Frau hat für den Haushalt zu sorgen. Weil der Mann nicht dafür erzogen wurde, den Haushalt zu führen. Mein Mann ist der liberalste Mann, den ich kenne -aber wenn ich zu ihm sagen würde, er soll kochen oder putzen, wäre er überfordert, weil ihm das niemand beigebracht hat.

dieStandard.at: Kann man es nicht nachlernen?

Tuncel: Es geht um die Grundhaltung. Dass es nicht normal ist, wenn ein Mann so etwas tut - selbst, wenn er es kann. Das ist ein grundsätzlich patriarchaler Zugang. Darum wäre eine geschlechtsneutrale Erziehung von Mädchen und Buben sehr wichtig. Dort beginnt es - und das spannt sich weiter zu hochrangigen politischen Forderungen, wie einer 50 Prozent-Quote von Frauen auf allen politischen Ebenen. Über solche positiven Diskriminierungen wird in diesen türkischen Communities ja noch gar nicht diskutiert.

Aytaç: Ich fordere einen gendersensiblen Zugang in allen Lebensbereichen. Dass man respektiert, dass Frauen andere Vorstellungen haben als das, was man von Frauen typischerweise erwartet. Dass man weibliche Stereotype aufbricht - schon in jungen Jahren. Mein sechsjähriger Sohn hat mich gefragt, ob es denn nirgends Bürgermeisterinnen gebe. Ihm fällt es auf, dass überall Männer die Bürgermeister sind. So soll es sein.

Tuncel:  Die Erwerbstätigkeit gehört forciert. Aber da stellt sich auch die Frage der Religion. Wie ist das mit dem Kopftuch - ist das wirklich alles so freiwillig? Oder sind das gesellschaftliche Normen? Ich spreche nicht nur von religiösen Normen. Ich habe 17-jährige Mädchen mit Kopftuch in der Schule, die sagen: Ich bin schon gläubig, aber nicht gläubiger als meine Freundin ohne Kopftuch. Und dazu kommt, dass das Tragen eines Kopftuches kein Wettbewerbsvorteil ist. Ich kann bei einer Schülerin mit Kopftuch zu 99 Prozent davon ausgehen, dass sie in einem türkischen Unternehmen arbeiten wird.

dieStandard.at: Ist das ein Argument, kein Kopftuch zu tragen?

Tuncel: Nein. Und ich bin auch keine Anhängerin einer Kopftuchverbotes, das wäre der völlig falsche Zugang. Tatsache ist aber, dass für die Entscheidung fürs Kopftuch oft nicht die Religion maßgeblich ist, sondern sozialer Druck. Und langfristig verstehe ich jene Frauen, die sagen, sie haben genug von dieser Diskriminierung am Arbeitsmarkt, sie bleiben zuhause. Andere stehen wiederum unter Druck, weil ihre Männer in der Krise den Job verloren haben. Ich kenne sehr viele Frauen, die aus diesem Grund ihr Kopftuch abgenommen haben, um arbeiten gehen zu können.

dieStandard.at: Wie sehen Sie türkischstämmige Frauen in den Medien vertreten?

Tuncel: Sehr schlecht. Wenn sie angesprochen werden, geht es um Kopftuch, um Unterdrückung, um negative Bilder. Positive Bilder haben im ORF in 30 Minuten "Heimat, fremde Heimat" Platz, und sonst nicht. was mir fehlt, ist eine ZiB "-Moderatorin mit türkischem Hintergrund, zum Beispiel. Wir sind immer noch Objekte der Medien, weil wir als Blutplasma für den Sauerstofftransport der Integrationsdebatten fungieren. Lange Zeit hat man uns gar nicht wahrgenommen. Jetzt nimmt man uns wahr, aber mit negativen Themen. Der nächste Schritt wird sein, dass sich in den Medien auch positive Bilder etablieren.

Aytaç: Dem ist nichts hinzuzufügen. (dieStandard.at, 9.3.2010)