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Was eigentlich macht Rom in dieser Zeit, in der man wieder heilige Kriege führt, Gott auf seiner Seite wähnt, Glauben zum Kampf verbrämt? Was für eine Energie hat diese Stadt, in der so viele beten? Wie fühlt man sich darin? Wie lebt es sich in Rom, wohin angeblich alle Wege führen? Wenn man aus dem stillen Märchenland Österreich kommt, ist man erst einmal geschockt, überall Geschrei, Gefuchtel, wilde Mopedfahrer, Menschen, die keine Nähe scheuen, aufrücken, angreifen, scheinbar nach dem Grundsatz leben: "Ich schreie, also bin ich."

Die meisten Römer haben Sonnenbrillen auf der Stirn - tragen sie, wie Insekten Fühler. Dafür sieht man kaum normale Brillen, mag sein, es liegt am vielen alles durchflutenden Licht, das vor der Kurzsichtigkeit bewahrt - oder einfach daran, dass alle Kontaktlinsen verwenden? Auch Klobrillen gibt es hier selten, aber für diese römische Klo-Misere kann das Licht wohl eher nichts. Rom ist laut, die Luft derartig schlecht, dass nicht nur viele Römer Hautprobleme haben, auch der Marmor ist zerfressen. Statuen, Brunnen, Treppen - alles hat so eine Art Porosität, zerfällt zu Kalk. Rom ist fürchterlich?

Nein, Rom ist wunderbar, die schönste Stadt der Welt, nicht nur zu Ostern, wenn mit den Glocken die Touristen in die Stadt einfallen, die riesige Krebszange Petersplatz verstopfen, sich die Spanische Treppe hinaufwalzen, das Gedränge der Verdammten und Erretteten des Michelangelo-Altars in der Sixtinischen Kapelle imitieren, nachher in den Touristenfallen landen, mit "Pronto" nach den Kellnern schreien: Ich bin bereit!

Die Kellner freilich sind das Pronto schon gewöhnt, sind ihrerseits bereit, mittelmäßiges Touristen-Essen zu servieren. Gut, so etwas gibt es wohl in jeder Stadt, warum nicht auch in Rom? Rom ist wunderbar.

Sehenswürdigkeiten gibt es so viele wie vielleicht in ganz Europa zusammen nicht. Auf antiken Karten schaut die Stadt aus wie ein Zyklop, aber nein, das Riesenauge gehört keinem Lateinlehrer, von denen es in Rom ausreichend gibt, es ist das Pantheon, eine Art gigantische Loch-kamera, ein antiker Versuch, Gott zu fotografieren.

Oder das Kolosseum, dessen linsenförmige oder vaginale Manege für eine Hinrichtungsstätte nicht unironisch ist. Der Trevi-Brunnen, dieser durch Dolce Vita und Anita Eckberg völlig zu Unrecht berühmt gewordene Eisbärenkäfig für Touristen, der heute vor lauter Rosenverkäufern übergeht und trotzdem nicht entfernt an das Brunnenensemble der Piazza Navona heranreicht, das mit seinen Horn blasenden Faunen, erstochenen, Brüsten ähnlichen Tintenfischen und erwürgten Delfinen das ganze entfesselte Drama des Liebesspieles zeigt - von der Eroberung über sich suhlende Glücksfische und wiehernde Pferde bis zu den Putti.

Und daneben Kirchen, Kirchen, Kirchen. Fast 1000 Kirchen sind in Rom. Im Gegensatz zu Venedig muss man hier noch keinen Eintritt zahlen, bieten sie ein Refugium vor der lauten, hektischen Stadt. Nur vor Lateinlehrern ist man auch hier nicht sicher. Aber ganz egal, in welche Kirche es einen nun spült, überall stößt man auf Kunst. Caravaggio, Tizian, Bernini. Auf der Straße Versace, Fendi, Prada, Armani, in den Kirchen aber Kunst. Rom ist die Hauptstadt des Schönen, nirgendwo so viele schöne Menschen, alles ist hier schön, der Himmel, das glitschige Kopfsteinpflaster, sogar der Fußball - den Catanaccio haben schließlich die Mailänder erfunden.

Rom ist aber auch eine Stadt des Glaubens, wie die Knödelfülle eines Kalbsbratens liegt der Vatikan mitten in der Stadt. Die Sauce drüber wäre dann der Tiber. Und wie Bierfässchen auf Beinen oder verloren gegangene Nudeln sähen dann die überall herumwuselnden Pfarrer und Nonnen aus, manche in Grün, andere in Rosa, in Weiß, Schwarz oder Grau. Und alle, egal ob Asiaten, Schwarze, Europäer, haben diesen Glanz in ihren Augen, leuchten von innen her, weil sie einem nur gehören, dem aber ganz - und der rührt sie nicht an, deswegen sind sie rein, unberührt und leuchten. Oder strahlen sie, weil sie in der Heiligen Stadt sind, nahe dran am Paradies?

Vor ein paar Wochen erst hat man einer Petrus-Statue am Eingang der Vatikanischen Grotten die Hand mitsamt dem Schlüssel gestohlen. Ob dieser Schlüssel zum Himmelreich etwas mit dem kurz darauf begonnenen Irakkrieg zu tun hat? Mit dem religiösen Fanatiker Bush junior, dem Doppelweh? Jedenfalls wird seitdem die aus dem 13. Jahrhundert stammende "amputierte" Statue mit einem weißen Tuch verhüllt.

Aber keine Angst, die weitaus bekanntere bronzene Petrusskulptur im Petersdom selbst hat ihren Schlüssel noch. Sie ist noch heil, nur um ihre Füße steht es schlecht. Und dabei sitzt der Petrus doch? Schon, aber im Laufe der Jahrhunderte haben ihm so viele Pilger, Kunstreisende und Lateinlehrer die Füße geküsst, dass jetzt nur noch zusammengeschliffene Klumpen übrig sind. Noch immer werden sie, die fast wie chinesische Lotusblüten aussehenden Klumpfüße, täglich von so vielen Menschen gestreichelt und abgeschmust, dass sie eigentlich mit einem in Hallenbädern oder Fitnesscentern üblichen Fußpilzdesinfektionsspray ausgestattet werden müssten, weil diese Petrusfüße sind eine Ansteckungsgefahr - in der Hand hält er den Schlüssel zum Paradies, aber an seinen Füßen tummeln sich die Viren und Bakterien.

Der Petersdom lohnt nicht nur innen und oben, wo man von der Kuppel aus einen runden Stadtblick hat, sondern auch unten, sehen seine Katakomben doch wie eine Tiefgarage aus, nur dass anstatt der Limousinen Papstsärge darin stehen.

Hinter dem Pantheon findet man die Santarias, Geschäfte, in denen es Feldmonstranzen, Weihwasserbecken, Klingelbeutel und Kerzenständer gibt. Hostienschränke, Heiligenstatuen und was es sonst noch alles braucht, eine Kirche einzurichten.

Außerdem wird man über die neuesten Gottesdienermoden informiert, sieht in Schaufenstern die typischen Pfarrerschuhe und Hosen, Messdienersandalen, Schürzen für Pfarrersköchinnen. Der normale Romreisende freilich macht sein Papst-Shoppen eher bei einem der unzähligen Straßenhändler, wo es Johannes-Paul-Büsten, Rosenkränze, Kreuze gibt, oder man geht in eines der Devotionaliengeschäfte, das noch immer ausgestanzte Hände, Augen, Köpfe usw. führt.

Unbedingt gesehen haben muss man die Kapuzinerkatakomben, eine Art Jägerstüberl auf Italienisch, nur dass statt der Hirschgeweihe Menschenknochen an den Wänden hängen, eine barocke Stuckatur bilden. Hüftknochen oder Schädel sind zu bizarren Formationen aufgeschlichtet, sehen aus wie große, getrocknete Pilze. Knochen und Knochen überall. Nur vereinzelt ein paar ganz gebliebene Skelette. Eines hängt an der Gewölbedecke, eine Sense in der Hand, darunter am Boden der Spruch: "Was ihr seid, waren wir, was wir sind, werdet ihr."

Es ist wie in einer Geisterbahn, wie wenn der Hallstädter Totengräber sich einen absurden Scherz erlaubt hätte, Knochen über Knochen. Wenn man nach so vielen fleischlosen Gebeinen noch immer Hunger hat, kann man sich auch an die römischen Spezialitäten wagen: "coda alla vaccinara", Schwänze junger Rinder in Wein und Tomaten, "pajata", Kalbsmagen mit Tomatensoße, die "trippa alla romana", Kutteln also, gebackene Zucchiniblüten, Maccaroni mit gefüllten Därmen oder Rosmarin-Kaninchen. Alles fantastisch. Es muss ja nicht immer Pasta sein.

Wenn man sich dann also satt gegessen hat, was, wenn man nicht einer Touristenfalle auf den Lasagne-Leim gegangen ist, in der vorzüglichen, preiswerten römischen Gastronomie nicht schwer fällt, muss man auf die Scala Santa, die Stiege, die angeblich Jesus bei seinem Prozess auf und ab geschritten ist. Heute darf man die 28 Stufen nur noch knien, doch Vorsicht, was von unten einfach wirkt, tut kniend dann oft ganz schön weh. Außerdem kann man beim Knien auch nicht überholen, dafür fehlt die zweite Spur. Man ist an die Kniegeschwindigkeit seiner Vorbeter gebunden, die kann oft langsam sein.

Rom ist überhaupt die Stadt der Treppen und der Obelisken. An allen größeren Plätzen stehen Spitzpfeiler aus rotem Granit, denen meist noch die ägyptischen Zeichen abzulesen sind - um das Heidnische daran zu bannen, hat man an ihrer Spitze Kreuze angebracht. Und um an den antiken Statuen das Heidnische zu bannen, sind sämtlichen Männerstatuen die Genitalien abgeschlagen.

Vielleicht ist ja etwas dran an dem Gerücht, dass es in den Vatikanischen Museen eine spezielle Sammlung dafür gibt? Oder hielt man diese dauernde, in Stein gemeißelte sprachliche Irreführung nicht mehr aus? Die einzig mir bekannte kirchliche Darstellung eines Orgasmus gibt es übrigens auch zu sehen, nämlich in der Santa Maria della Vittoria, in der die vom Engel durchbohrte heilige Teresa von Avila in höchster Verzückung zu sehen ist. Beeindruckend.

Die Villa Borghese, die scheinbar gleichen und doch ganz verschiedenen Kirchen auf der Piazza del Popolo, die nächtlichen Autoradiolautstärken-Wettbewerbe im Park darüber und und und. Rom ist fantastisch, aber Rom hat sich in den vergangenen 50 Jahren auch kaum verändert. Aus Angst vor neuen Funden vermeidet man das Graben. Nichts rührt sich hier, aber vielleicht ist gerade das der Grund, immer wieder gern in Rom zu sein. Es ändert sich ja sonst genug.(Der Standard/rondo/11/04/2003)