Flechten sind Meister der Anpassungsfähigkeit, die über tausend Jahre alt werden können. Hier im Bild eine
Krustenflechte aus Tibet, die in Form eleganter Bänder wächst.

Foto: W. Obermayer

Viele übersieht man leicht, andere wiederum stechen durch Farbe oder Wuchsform sofort ins Auge: knallig gelb, bizarr wulstig oder wie zersaustes Hexenhaar von Ästen herabhängend. Doch Flechten, unter Forschern auch Lichenes genannt, faszinieren nicht nur durch ihr Aussehen.

Es sind keine Pflanzen im eigentlichen Sinne, sondern Mischwesen aus einem Pilzgeflecht, dem Mycobiont, und Algenzellen, den Fotobionten. Nahezu perfekte Symbiosen, bei denen der Pilz den Algen eine schützende Struktur bietet und dafür im Tausch bestimmte, meist mittels Fotosynthese hergestellte Nährstoffe bekommt.

Die Pilz-Algen-Bündnisse gehören zweifellos zu den Erfolgsmodellen der Natur. Flechten findet man auf allen Kontinenten und in allen Klimazonen - bis hin zu den Eiswüsten Antarktikas, wo sie sogar auf von Menschen zurückgelassenen Glasflaschen gedeihen. Viele Flechtensorten sind eben äußerst robust und konnten sich im Verlauf ihrer Evolution perfekt an ein Leben unter extremen Bedingungen anpassen.

Ursprüngliche Lebensformen

"Sie haben ja auch 600 Millionen Jahre Zeit gehabt", sagt der Biologe Martin Grube vom Institut für Pflanzenwissenschaften der Universität Graz halb scherzhaft im Gespräch mit dem Standard. Der Fachmann geht davon aus, dass die Urtypen der Flechten zu denjenigen Lebensformen gehörten, die als Erste aus dem Wasser kamen und sich dauerhaft an Land niederließen.

Für Grube sind Flechten eine wissenschaftliche Leidenschaft. Im Rahmen mehrerer vom FWF geförderter Projekte hat der Forscher u. a. die Hintergründe ihres Formenreichtums untersucht. Zusammen mit seiner Kollegin Elisabeth Baloch konnte er im sogenannten "Regenwald der Österreicher", ein mit Spendengeldern gekauftes und so geschütztes Waldstück in Costa Rica, eine überraschend hohe genetische Diversität bei auf Baumblättern wachsenden Lichenes nachweisen. Die Artenvielfalt dieser Flechten könnte viel größer sein als bislang angenommen, schrieben die beiden Experten 2009 in der Fachzeitschrift Molecular Ecology (Bd. 21, S. 2185).

Die Diversität hat einen direkten Bezug zur ökologischen Anpassungsfähigkeit der Flechten. "Manche Flechtenpilze können nur streng mit einer Algenart zusammenleben", erklärt Martin Grube. Andere sind flexibler. In manchen Hundsflechten der Gattung Peltigera zum Beispiel gehen die Pilze entweder mit Blaualgen oder Grünalgen eine Symbiose ein, und manchmal sogar mit beiden gleichzeitig, berichtet Grube. Im Allgemeinen gilt: Je größer die mögliche Auswahl der Partneralgen, desto größer auch die Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Lebensbedingungen.

Flechten, die in schwierigen, eingeschränkten ökologischen Nischen wachsen oder komplexe Strukturen bilden, bestehen üblicherweise aus rigiden Paarbindungen zwischen einer einzigen Pilzspezies und ebenfalls nur einer Algenart. Stabilität ist unter solchen Umständen Trumpf, beide Partner haben sich evolutionär optimal auf ihre gegenseitigen Bedürfnisse eingestellt. Einzelne solcher Flechten können sogar mehr als tausend Jahre alt werden.

Ganz anders ist dagegen die Lage bei weitverbreiteten Arten wie Lecanora rupicola. Diese Spezies kann sich laut der Erkenntnis der Grazer Forscher mit einer Vielzahl unterschiedlicher Algen der Gattung Trebouxia zusammentun. Ihre Flexibilität, glaubt Martin Grube, ermöglicht es den Flechtenpilzen, in verschiedenen Habitaten zu gedeihen, jeweils liiert mit einer an den Standort bestens angepassten Alge.

Sexuelle und asexuelle Arten

In Bezug auf ihre Vermehrung lassen sich bei flechtenbildenden Pilzarten zwei Kategorien unterscheiden: Solche, die sich geschlechtlich fortpflanzen, und asexuelle Spezies. Letztere verbreiten sich unter anderem durch staubfeine Soredien, Abschnürungen des Flechtenkörpers, welche meist vom Wind fortgetragen werden.

Soredien bestehen nicht nur aus Pilzfäden, sie enthalten auch einige Algenzellen. Bisher galt dies als eine obligate gemeinsame Verbreitungsstrategie. Der Pilz nimmt seinen Algenpartner mit auf die Reise, um anderswo gemeinsam neu anzufangen. Sie können nicht ohne einander. Dachte man. Denn dieser Gedanke hat sich als Irrtum erwiesen.

In einer neuen Studie haben Martin Grube und Sabine Wornik bei Flechten der Gattung Physconia nachgewiesen, dass die Algenzellen in den Soredien nicht unbedingt diejenigen sind, mit denen der Pilz später eine neue Flechte bildet.

Molekulargenetische Analysen deckten durchaus häufige Partnerwechsel auf (vgl. Microbial Ecology, Bd. 59, S. 150). Wahrscheinlich handelt es sich um eine opportunistische Vorteilsbeschaffung seitens dieser unerwartet flexiblen Pilze.

Man muss sich das wohl wie einen Verdrängungswettbewerb vorstellen, so Grube. Wenn die Pilzfäden auf eine lokal vorhandene Algensorte treffen, mit der sie unter den gegebenen Bedingungen physiologisch besser harmonieren, dann beherrscht das dort gebildete Gewebe schon früh den gesamten Flechtenkörper. Und der ursprüngliche Algenpartner hat das Nachsehen. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Printausgabe, 03.03.2010)