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"Ich langweile mich so!": Dieser verzweifelte Kinderschrei von oben muss, glaubt man Else Lasker-Schülers autobiografischen Zeugnissen, irgendwann in den 1870er-Jahren in Elberfeld an der Wupper vorbeieilende Passanten erschreckt haben. Wer stehenblieb und nach oben sah, entdeckte vielleicht das kleine, schwarzhaarige Mädchen, das vom "Turm" seines Elternhauses herab der Welt sein Leid klagte.

Gegen ihr Ungenügen an der Realität spielte die jüdische Bankierstochter bis zu ihrem Tod 1945 in Jerusalem mit einer Radikalität an, der nur wenige gewachsen waren. Kerstin Decker hat der "größten Lyrikerin, die Deutschland je hatte" (Gottfried Benn), eine Lebensbeschreibung gewidmet, die Lasker-Schüler beim Wort nehmen will.

Nicht dass die Berliner Journalistin mit den Fakten ebenso frei umginge wie die Dichterin, die ihr Geburtsdatum von 1869 erst auf 1876, schließlich gar auf 1891 verlegte. Vielmehr versteht es Decker, ein Verständnis für die "seelische Wahrheit" hinter diesem kreativen Umgang mit der Wirklichkeit zu wecken, der es der Forschung bislang so schwer gemacht hat. Kerstin Decker kann so den Blick auf die tragikomischen Aspekte dieser bedingungslosen Künstlerexistenz erst in der Berliner Boheme, dann im Exil in der Schweiz und in Jerusalem lenken - etwa auf die Verblüffung der Dichterin, als alle Welt ihr 1926 zum 50. Geburtstag gratulieren wollte.

Deckers Motto lautet: "Biografie ist radikale Vergegenwärtigung." Lebensgeschichte wird bei ihr mit Sprachlust und Ironie aufgelöst in eine romanähnliche Abfolge von Szenen, mit der Folge, dass sich der Leser irgendwann zwischen all den Nahaufnahmen ein wenig verloren fühlt. Dominierendes Stilmittel ist die erlebte Rede. Heikel wird so viel Einfühlung spätestens dann, wenn Decker mehr zu wissen glaubt als ihre Figur ("Sie weiß gewiss nicht mehr, wann sie dieses Gedicht gemacht hat. Sie ist nicht ihr Buchhalter" ).

Für Decker war Else Lasker-Schüler eine "Eigenweltbewohnerin, auch - darin liegen ihr Glück und ihre Tragik zugleich - eine Eigenweltinhaftierte." In wilden Kostümen inszenierte sie sich einmal als "Tino von Bagdad", ein andermal als "Jussuf, Prinz von Theben" und erfand so die Performancekunst. Ihre Geburtsstunde als Dichterin habe Lasker-Schüler nicht erst erlebt, als um 1898/99 der Dichter-Vagabunden Peter Hille ihr Mentor wurde, sondern, so Decker, bereits acht Jahre zuvor, nach dem Tod ihrer Mutter, für die damals 21-Jährige eine "kosmische Katastrophe" . Den braven, aber allzu bürgerlichen Arzt Berthold Lasker habe sie 1894 vor allem in der (vergeblichen) Hoffnung geheiratet, in der Ehe einen Ersatz für die verlorene elterliche Geborgenheit zu finden.

Bereits 1903 ließ sich die Dichterin in Berlin, inzwischen Mutter einer außerehelich gezeugten Sohnes, scheiden und heiratete noch im selben Jahr Georg Levin, der mit seiner Zeitschrift Sturm den Expressionismus mitbegründete. Levin war neun Jahre jünger und hieß fortan Herwarth Walden. Die Muster sollten sich wiederholen. So erhielt jeder, der in den Spielbereich der Dichterin gelangte, einen eigenen Namen: Karl Kraus wurde zum "Dalai Lama" , der junge Gottfried Benn zum "Giselheer" .

Und fast alle ergriffen früher oder später die Flucht vor der meist mittellosen, exzentrischen und wohl allzu anstrengenden Künstlerin, die ihre diversen Geliebten mit Briefen und Gedichten bombardierte. Walden floh in die Arme einer blonden "Anti-Else" aus Schweden. Und mit dem jungen Gottfried Benn führte Lasker-Schüler vor den Augen der Kaffeehaus-Boheme das atemberaubendste lyrische Duett der Literaturgeschichte auf, ehe Benn, so Decker, "in das Inkognito einer bürgerlichen Randexistenz" entkam.

Bei anderen löste die Dichterin gleich zu Beginn Abwehrreaktionen aus. Als sie bei einem Prag-Besuch als "Prinz von Theben" die Aufmerksamkeit eines Schutzmanns erregte, erklärte der danebenstehende Franz Kafka: "Das ist nicht der Prinz von Theben, das ist nur eine Kuh vom Kurfürstendamm!" Dabei war Else Lasker-Schüler, die sich gern als Indianer oder orientalischer Krieger bezeichnete, nichts weniger als weltfremd. Bis zu ihrer Flucht ins Exil 1933 zog sie mehr als einmal ganz real in den Krieg, gegen ausbeuterische Verleger ebenso wie gegen Nazi-Rowdys. Im Dezember 1930 schrieb sie nach der "Nollendorfschlacht" um die Verfilmung von Im Westen nichts Neues stolz: "Noch eine Wunde am Oberarm und Unterfußgelenk, so hab ich mich geschlagen mit den Nazis." (Oliver Pfohlmann, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 27./28.02.2010)