Bild nicht mehr verfügbar.

Kein Herz für den "Fall Helene Hegemann" - oder doch? Wieso sollte der geistige Raum nicht allen gehören, so wie der Weltraum?

 

Weiterlesen:

Der Hegemann-Hype im Feuilleton
Die überhitzte Debatte über Helene Hegemanns Roman legt die Mechanismen des Literaturbetriebs und der Medienkultur bloß - Von Alexandra Föderl-Schmid

 

Nachahmung als Prinzip - Eigentümlich genial
Schon Aristoteles erklärte die Nachahmung zum Grundprinzip der Dichtung - Historische Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte - Von Thomas Weitin

Foto: dpa

Wenn ich Musik höre und dabei eine Melodie aus einem anderen Musikstück erkenne, dann stört mich das nicht, im Gegenteil, ich begrüße sie wie eine alte Bekannte. Wenn ich aber beim Lesen eines Buches das Gefühl bekomme, das kenn ich doch, das habe ich schon anderswo gelesen, ist es mir, als sei ich einem Schwindel auf der Spur. Wenn nichts im Buch darauf hindeutet, dass fremde literarische Texte einmontiert sein könnten, fühle ich mich als Leser reingelegt.

Einmal bekam ich eine E-Mail, in der ein mir unbekannter "Vernaderer" behauptete, er habe gerade die Übersetzung eines Romans gelesen, in dem sich fast wörtlich der Ausschnitt eines Textes von mir finde. Die Unterschiede lastete er dem doppelten Übersetzungsvorgang an. Offenbar habe der Autor den Abschnitt zunächst in seine Sprache übersetzt, dann habe der Übersetzer, in Unkenntnis des Originals, den Romanausschnitt ins Deutsche rückübersetzt. Das schließe er aus der Art, wie der Text vom Original abweiche. Ich schaute mir die Sache an, und tatsächlich, es wurde im genannten Romanauszug derselbe Sachverhalt mit derselben Argumentation ausgebreitet, die auch ich damals verwendet hatte, es stimmten die Inhalte der Sätze überein, es wurden auch dieselben Metaphern verwendet. Was tun?

Ich wandte mich über den Verlag an den Autor und bat ihn, mir zu erklären, wie es zu dieser frappierenden Ähnlichkeit komme. Ich hatte erwartet, der Kollege sei nun empört und würde jeden Zusammenhang mit meinem Text streng von sich weisen. Stattdessen ließ er mir über seinen Verlag mitteilen, dass er das nicht so eng sehe wie ich. Er habe viele Quellen verwendet, das sei das Prinzip seines Schreibens, er notiere, was ihm unterkomme und da gehörten eben auch andere Texte dazu. Es tue ihm leid, wenn ich das nicht verstünde, er habe mir in keiner Weise Unrecht tun wollen.

Für mich war das eine lehrreiche Erfahrung. Ich hatte gerade das Buch eines Juraprofessors der Stanford-Universität gelesen, der zum Vordenker der Idee der freien Werknutzung geworden war. Lawrence Lessig hatte in Free Culture - The Nature and Future of Creativity die These vertreten, geistiges Eigentum sei kein Gebrauchsgut, sondern Teil der gemeinschaftlichen Wertschöpfung. Das hatte mir gefallen, aber als ich mich dann selbst beklaut fühlte, gefiel es mir nicht mehr ganz so gut. In der Korrespondenz mit dem Verlag des Kollegen fiel der Begriff der Intertextualität. Den verwendete auch Helene Hegemann, als man ihr dahinterkam, dass sie Passagen ihres Buches Axolotl Roadkill aus dem Roman Strobo des Berliner Bloggers Airen geklaut hatte.

Intertextualität scheint zu einer Art Zauberwort geworden zu sein, das in den letzten Jahren, vermutlich auf vielfachen Wunsch, einen signifikanten Bedeutungswandel erfahren hat. Julia Kristeva hat mit dem Begriff der "intertextualité" nicht einen Freibrief zur Aushebelung des Urheberrechts ausstellen wollen, sondern sie wollte zum besseren Verständnis von Literatur beitragen. Texte könnten nicht so tun, als habe es vor ihnen noch keine anderen Texte gegeben. Jeder Text, so schreibt Kristeva in ihrem Bachtin-Aufsatz, baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. Die Erkenntnis, dass die Literaturgeschichte und das den Autor umgebende Sprachverhalten an seinem Text mitschreiben, ist jedoch keine Aufforderung, von nun an die Texte der Kollegen gezielt als Baumaterial für die eigenen Kathedralen zu verwenden. Julia Kristeva spricht nicht von "copy and paste", sondern von Absorption und Transformation fremder Texte in eigene.

Der Einfluss durch andere Werke ist nicht nur zulässig und erwünscht, er ließe sich auch gar nicht verhindern. Er ist der Gewinn für unsere Teilnahme an einer gemeinsamen Kultur. Die Sprachen anderer Werke in einen neuen literarischen Remix zu bringen, ist eine genuin literarische Tätigkeit.

Der britische Journalist Christopher Booker veröffentlichte vor fünf Jahren das Buch The Seven Basic Plots: Why We Tell Stories, in dem er sich zu der Behauptung verstieg, dass sich die gesamte erzählende Literatur auf nur sieben Grundtypen von Plots zurückführen lasse. Im Zuge der nachfolgenden Diskussion war er bereit, noch ein achtes Grundmuster des Erzählens anzuerkennen. Dass Texte miteinander kommunizieren und dass die Sprachentwicklung eine kollektive Angelegenheit ist, wird niemand ernsthaft infrage stellen. Wenn ein Autor freilich auf das wörtliche Zitieren ganzer Textpassagen versessen ist, tut er gut daran, sich zu erinnern, dass der fremde Text nicht aus der eigenen Feder geflossen ist und daher auch nicht verstohlen als solcher ausgegeben werden sollte. Man kann den Montagecharakter eines Werkes auch offen zur Schau stellen. Das hat eine große Tradition. Niemand verlangt von Kunstwerken eine wissenschaftliche Zitierweise nach preußischer Instruktion. Ein musikalischer Remix trägt auch keine Fußnoten.

Die MP3-Blogger haben vor einigen Jahren Bewegung in die Urheberrechtsdebatte gebracht, als sie Musik zum Gemeinschaftseigentum erklärten und ungeniert zum Download auf ihre Website setzten. Die in der Folge entstandenen Internet-Tauschbörsen löschten bei einer ganzen Generation von Usern jeden Sinn für geistiges Eigentum. Wenn der Zuhörer klauen darf, warum nicht auch der Komponist?

Dass die Free-Culture-Bewegung vor der Literatur nicht haltmachen würde, war abzusehen. Die Situation wird sich verschärfen, wenn die Bücher demnächst auf den iPads Einzug halten. Sobald Bücher, wie das bislang nur zwischen Autoren und Verlegern der Fall war, als Files herumgeschickt werden, sind für den digitalen Kompilierer die Portionen mundgerecht serviert. Wenn ein Copy-and-paste-Produkt den weitgehend gesetzlosen Raum des Internets verlässt und in einem Konzerthaus oder zwischen zwei Buchdeckeln landet, reibt sich so mancher Digitalkünstler verwundert die Augen, weil hier draußen immer noch die alten Urheberrechtsgesetze in Kraft sind, die zwischen Zitat und geistigem Diebstahl genau unterscheiden wollen - was nicht immer leicht ist.

Das Urheberrecht regelte den Schutz geistigen Eigentums im Gutenberg'schen Zeitalter. In der digitalen Welt ist das Gesetz nur dort exekutierbar, wo es in großindustriellem Maßstab verletzt wird, wie das bei den Tauschbörsen der Fall war. Für Künstler, die nur Ideen entwickeln und nicht gleichzeitig als Entertainer auftreten, wird es eng. Ihnen bricht in rasantem Tempo die Haupteinnahmequelle weg. Menschen, die ihre Zeit damit ausfüllen, ihre Ideen zu Papier oder in das Notebook zu bringen, werden mit dem Gewerbe der darstellenden Kunst zu einer Liaison kommen müssen. Musiker werden sich an Haus- und-Hof-Sänger verkaufen, Dichter werden mit Schauspielerinnen auf eine lebenslange Lesetournee gehen. Sie können nicht einfach nur zusehen, wie das, was sie gedacht und aufgeschrieben haben, von den Geschäftstüchigen taxfrei verwendet wird. Geschäftstüchtig ist, wer sich verkaufen kann. Verkaufen kann sich, wer erkennt, dass die Macht, die früher einmal den Verlegern gehörte, in die Hände der Vermittler gefallen ist.

Ich schrieb meinem Free-Culture-Kollegen, er möge so freundlich sein und bei einer Neuauflage seines Romans unter dem Vermerk HT alle Autoren aufzählen, bei denen er sich bedient hat. HT steht für "hat tip" . Ich habe diese Formulierung bei amerikanischen Bloggern gefunden, die sich damit, wie jemand, der zum Abschied mit dem Finger an den Hut tippt, vor denen verneigen, deren Schriften sie geplündert haben.

Kreative Prozesse sind keine solipsistischen Akte. Sie bedürfen der anderen - der anderen nicht nur als Leser, Zuhörer und Mitschauer, sondern auch als Mitproduzenten. Wenn ich einen Text schreibe, tue ich dies in einem Medium, das andere für mich aufbereitet und geformt haben. Die Sprache ist das exakte Gegenteil eines unbeschriebenen Blattes. Wieso sollte der geistige Raum nicht allen gehören, so wie der Weltraum?

Da ist auch noch ein Selbstbehauptungswunsch am Werk, vielleicht auch ein Stolz, der mir sagt: Du kannst deine Texte nicht ziehen lassen, als hättest du dafür nichts getan. Als wärest du in deinem Schreiben nur Teilnehmer an einem gemeinsamen Strom, ohne Exklusivrecht auf deine Gedanken. Wenn man für Gedanken keine Exklusivrechte mehr in Anspruch nehmen kann, wofür dann?

Das Urheberrecht schützt meine Subjektivität. Natürlich auch meine Illusionen von Subjektivität. Aber die würde ich mir gerne aufrechterhalten - weil sie eine so wunderbare Begründung für die Behauptung abgeben, dass man für Bücher auch einen Preis verlangen darf. (Josef Haslinger, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 27./28.02.2010)

HT: Christopher Booker, Mia Eidlhuber, Tim Harford, Andrian Kreye, Julia Kristeva, Lawrence Lessig, Jani Newrkla.