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Die Initiative "Guten Tag, trockene Nacht" wollte schon im Jahr 2000 das Thema Bettnässen enttabuisieren.

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„In jeder ersten Volksschulklasse sitzen zwei bis drei Kinder die nach wie vor nachts nicht trocken sind", weiß Christian Radmayr, Leiter der Abteilung für Kinderurologie der Medizinischen Universitätsklinik in Innsbruck. Enuresis, von der WHO als nächtliches Bettnässen an mindestens zwei Nächten pro Monat nach dem fünften Lebensjahr definiert, betrifft allein in Österreich über 60.000 Kinder. Keine Einzelfälle also, trotzdem verliert die Öffentlichkeit kaum Worte darüber. Das Thema berührt peinlich, die Eltern schämen sich und Fünfjährige üben sich bereits in Diskretion.

Das Trockenwerden wird den lieben Kleinen nicht einfach gemacht. Die Berufstätigkeit beider Elternteile erfordert heute in vielen Fällen frühzeitig eine Fremdbetreuung in Kinderkrippen oder -gärten. Die Freude über einen ergatterten Betreuungsplatz währt mitunter kurz, gilt doch die Windelfreiheit oft als Vorraussetzung für die Aufnahme eines Kindes. „Gründe, die dazu führen, dass viel zu früh mit dem Toilettentraining begonnen wird", weiß Radmayr und ergänzt: „Wer ein Kind mit eineinhalb Jahren auf den Topf setzt, greift in einen physiologischen Entwicklungsprozess ein und kann damit viel Schaden anrichten."

Wann und warum?

In welchem Alter aber sollte ein Kind die Kontrolle über die eigene Blase gewinnen? „Sobald es alleine ohne anhalten und ohne fremde Unterstützung aufrecht eine Stiege hinunter gehen kann, ist anzunehmen, dass die neurophysiologischen Entwicklung des Kindes soweit gediehen ist, dass auch die Blasenentleerung funktionieren kann", beantwortet Radmayr eine Frage, die viele Eltern beschäftigt. Über den Daumen gerechnet, sind allein aufgrund dieses neurologischen Reifungsprozesses 80% aller Kinder im Alter von vier Jahren trocken.

Reichlich spät für eine Gesellschaft, in der bereits Säuglinge tagsüber aus dem Familienverband entlassen werden und die aufgrund dessen früh nach sauberen Kindern verlangt. Der Druck auf den Nachwuchs ist groß und wird noch größer, wenn die letzte Windel auch im Alter von fünf Jahren nicht das zeitliche segnet. Die Frage nach dem „Warum" taucht auf und lässt viele Eltern psychische Probleme hinter einem nächtlichen Einnässen vermuten. Im Fall einer sekundären Enuresis, die sich dadurch auszeichnet, dass Kinder nach einer mindestens sechsmonatigen Trockenphase zum Bettnässen beginnen, ist diese Vermutung berechtigt. Traumatische Ereignisse, wie die Trennung der Eltern oder der Tod eines nahen Verwandten werden häufig damit assoziiert.

„Die Ursache einer primären Enuresis ist dagegen nur in den seltensten Fällen im psychischen Bereich zu finden", weiß der Tiroler Experte. Vordergründig sind hier unter anderem genetische Faktoren, unzureichende Blasenkapazität oder aber eine verzögerte Ausbildung der zirkadianen Rhythmik der ADH (Antidiuretisches Hormon)-Sekretion an dem multifaktoriellen Geschehen beteiligt. Übertriebene Sauberkeitserziehung und sämtliche verzweifelte Versuche der Eltern ein Kind am Bettnässen zu hindern, gehen jedoch an der kindlichen Seele nicht spurlos vorbei. So artet ein per se harmloses Phänomen schnell zum Psychodrama aus. Eltern und Kinder geraten in einen Teufelskreis, dem sie nur schwer alleine entrinnen.

Alarmsystem Klingelmatte

„Den Kindern kann aber geholfen werden", betont Radmayr und legt den Eltern betroffener Kinder nahe, das Thema endlich zu enttabuisieren. Zentrale Hinweise in der Basisdiagnostik liefert ihm das Miktions-Trink-Stuhlprotokoll, welches das Trink- und Essverhalten der Kinder über Tage hinweg exakt dokumentiert. „Ein Liter Flüssigkeit täglich mag für ein Kind zwar ausreichen. Allerdings wird es nachts kaum trocken bleiben, wenn es von dem Liter den Großteil nach 16 Uhr trinkt.", erklärt Radmayr. Präsentiert sich das Protokoll in dieser Weise, dann bieten Lifestylemanagment und ein nächtliches Alarmsystem, wie eine Klingelmatte oder Klingelhose oft schon die endgültige Lösung. Ergibt sich aus den Aufzeichnungen dagegen eine erhöhte nächtliche Harnproduktion, der die kindliche Blasengröße nicht gewachsen ist, dann ist dem Kind mit einer medikamentösen Therapie geholfen.

Die Erfolgsraten der Behandlungsoptionen sind groß. Diejenigen, die sich trotzdem scheuen Hilfe in Anspruch zu nehmen, dürfen dem Erwachsenenalter einigermaßen getrost entgegensehen: 15% aller Kinder die nach dem fünften Jahr einnässen, werden auch ohne Therapie innerhalb eines Jahres trocken. Statistisch hochgerechnet sind also 99% aller Betroffenen spätestens im Alter von 15 Jahren keine Bettnässer mehr. (derStandard.at, 28.2.2010)