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Schlachtpläne führen zu Tolstoi-Dramatisierungen (Austerlitz, Borodino): Regisseur Matthias Hartmann, der sich einen Schlüsselroman der Moderne szenisch zurechtlegt, bei der Arbeit.

Foto: : Hochmuth/APA

Der Witz steckt im Detail: Der inszenierende Burgdirektor will Tolstois Krieg und Frieden, ein gut eineinhalbtausend Seiten zählendes Kolossalwerk der russischen Romanprosa (1868), zum Theaterstück herunterbrechen. Hartmann verweigert derweil jede Bekanntgabe von Premierenterminen (Teile des "Stücks" werden vielleicht ab April im Kasino am Schwarzenbergplatz zu sehen sein).

Hartmann: Meine Dramaturgin Amely Haag muss bereits einen Ankündigungstext für den Monats-Leporello verfassen. Ich habe gesagt: "Warte, ich will da noch nicht hinein!" Es wird gerade an einer Textfassung gearbeitet. Roland Schimmelpfennig hat zwar ein Rückgrat mit Schwerpunkten gebaut - teilweise hat er indirekte, epische Texte in Monologe überführt, teilweise hat er sie auch sehr geschickt dialogisiert. Wenn man das nun mit Fleisch aus dem Roman anreichert, gelangt man erst zu einer Spielfassung.

Standard: Müssen Sie nicht vorab einige Grundsatzentscheidungen treffen? Wollen Sie "Krieg und Frieden" als Gesellschaftsporträt entfalten? Oder interessiert Sie die Begegnung mit Napoleon Bonaparte, dem "Weltgeist zu Pferde" , wie Hegel sagte? Ist das Buch die Beschreibung eines Epochenbruchs? Manchmal ist der Roman ja auch nur entsetzlich komisch ...

Hartmann: Schon Ihre Frage impliziert: Es ist unmöglich, Krieg und Frieden auf die Bühne zu bringen.

Standard: Aber ist es die Unmöglichkeit, die Sie reizt?

Hartmann: Es gibt einen Reflex, der mich etwa alle zwei Jahre anspringt: Ich muss dann etwas tun, was unmöglich erscheint. Wir sind jetzt durch das erste Buch durch, befinden uns in der Szene in der Oper - und sind bei einer Nettospielzeit von achteinhalb Stunden angelangt. Eine ganz schlanke Version! Wir "betrügen" uns dabei um den ganzen Reichtum, der in Tolstois Prosa enthalten ist.

Standard: Es handelt sich um die Erotik des Unmöglichen?

Hartmann: Erotik ist immer die Eroberung von etwas; hier handelt es sich um die Eroberung eines unendlich reichen Stoffes. Man versündigt sich sozusagen an ihm - und darum hege ich große Zweifel, ob es überhaupt eine Aufführung geben wird! Das Medium Theater sperrt sich einfach gegen diese ausschweifende Art, zu erzählen. Wir lernen alle gerade ungeheuer viel über die formalen Möglichkeiten des Theaters. Einer der wichtigsten Aspekte: dass wir uns vorab gar nicht auf die genannten inhaltlichen Aspekte festlegen, sondern das Theater als Erkenntnisraum ins Auge fassen. Das Epische schreckt uns gar nicht! Wir hatten bisher nur eine szenische Probe, auf der die Figuren sich selbst in der Tolstoi'schen Sprache vorstellten. Wenn Udo Samel als Romanheld Pierre Besuchow vor Ihnen auf einem Tisch steht und sagt, dass er ein "sehr großer Mann" sei, dann markiert bereits diese Diskrepanz die Behauptung: Dieser Prozess auf dem Theater ist es, der uns interessiert.

Standard: Sie meinen: Die Bühnenkunst darf nichts verdoppeln?

Hartmann: So sehr ich einerseits ein Stück wie Eine Familie von Tracy Letts über die Mimikry des Lebens in unserem Repertoire schätze, so sehr interessieren mich andererseits Vorgänge, die sich einzig auf Behauptungen stützen.

Standard: Sie bleiben vorderhand dabei: Es gibt keinen fixen Premierentermin?

Hartmann: Wir wissen noch nicht, wie das Ding überhaupt aussehen soll: Wollen wir an drei Tagen jeweils sechs Stunden machen? Soll es ein Marathon werden - mit kulinarischen Pausen? Oder sollen wir im Wege eines rabiaten Gemetzels alles zusammenstreichen und zwei Blöcke à vier Stunden übriglassen? Sodass wir eine Erstveröffentlichung machen, 2010/11 einen zweiten Teil nachreichen? Das Theater verlangt immer ein Premierendatum, an dem man sein Scheitern veröffentlicht. Ich habe mir oft überlegt: Warum werden so viele ältere Regisseure immer schlechter? Ich kann mir in Wahrheit nicht vorstellen, dass das Inszenieren-Können ein Vorrecht der Jugend - oder irgend eines Alters - ist. Ich kann mir aber vorstellen, dass man von sich selbst mit dem Älterwerden die Erfolgserfahrung einfordert. Jeder erfahrene Arzt weiß: Gegen Pusteln muss man Zinksalbe verschreiben! Ein Rechtsanwalt verfügt über Strategien, mit denen er seine Prozesse gewinnt. Wenn aber ein Regisseur glaubt, er könne Puzzlesteine seiner Erfolgserfahrung zusammensetzen, um den Erfolg zu wiederholen, dann misslingt die Aufführung sofort.

Standard: Das ist das Los der Kunst in der Moderne: Sie darf sich, um als unverdächtig zu gelten, nicht wiederholen.

Hartmann: Handschriften sind mindestens auf dem Theater medial besser kommunizierbar - dann fungieren sie als Logo. Als ich eine solche Erfahrung gemacht habe und anfing, mich zu wiederholen, wie in der Inszenierung Kasimir und Karoline am Burgtheater 1998, habe ich sofort alle Vereinbarungen aufgekündigt und versucht, mich neu zu orientieren. Dafür habe ich mich dann kopfüber in Botho Strauß hineingestürzt. Diese Initiation, mit der Uraufführung von Der Kuss des Vergessens in Zürich, war für mich heilsam: Künstlerische Prozesse sind Erkenntnisprozesse, um an etwas heranzukommen, von dem man nur eine Ahnung hatte.

Standard: Weg vom "Gewussten" ?

Hartmann: Ja, denn künstlerische Prozesse kommen oft aus einem Ahnungsraum. Der steht über einem, aber man kann ihn nicht einfach auf die Bühne "herunterahnen" . Die Antenne dazu stellt der künstlerische Prozess dar. Auch deshalb mache ich Krieg und Frieden. Vielleicht habe ich mich damit vertan. Dieser Stoff ist sozusagen unendlich - allein aufgrund seines Volumens. Im Moment wissen wir noch nicht, wie wir dieses Volumens Herr werden sollen. Jede Figur, die ich wegstreichen muss, tut mir im Herzen weh. Oft sind diese Figuren ja so reich, obwohl sie eindimensional sind, weil Tolstoi sie eben ungeheuer präzise beschreibt.  (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe 23.2.2010)