Entstehung der österreichischen Nationalfarben mit viel Rübensaft: Katja Kolm und Ingo Tomi. 

Foto: Schauspielhaus / Alexi Pelekanos

Wien - Gerhild Steinbuch nimmt in ihrem Stück Herr mit Sonnenbrille, passend zur Olympiade, noch einmal die heimische Bergwelt ins Visier. Ihr Text - den man sich scheut, ein Drama zu nennen - verhandelt den wintersaisonalen Tourismus-Komplex: Die Masse der Ansässigen, zu Dienstleistern herabgewürdigt, muss ohnmächtig dabei zusehen, wie man sie um den Fruchtgenuss an der schönen Bergwelt betrügt.

Das Leben auf dem Lande verkommt zum Anhängsel von Profitinteressen: Lebensperspektiven werden an den Betrieb von "Sechsersesselliften" und an den Unterhalt von Sporthotels geknüpft. Um es, mit Blick auf die Uraufführung im Wiener Schauspielhaus, kurz zu machen: Die schleichende Enteignung "natürlicher" Lebensräume stürzt die im Heimatboden locker Verwurzelten in schlimme Identitätskrisen.

Steinbuch reiht sich sehr bemüht ein in die ehrwürdige Reihe linker Kritik, die an der Zerstörung des Landlebens vor allem deren Folgewirkungen bekrittelt: Die Österreicher, daran gewöhnt, den Touristen gegenüber mit Liebedienerei zu punkten, betonen unablässig die Naturwüchsigkeit ihrer Berg- wie Gefühlswelt. Was dabei aber Schaden nimmt, ist das Einverständnis mit sich selbst.

Und so erweist sich Regisseur Robert Borgmanns Produktion als kleines Prachtkompendium postdramatischen Theaters. Zitiert werden in ihr - möglichst gleichzeitig und möglichst nassforsch - alle satirischen Haltungen, die man gegenüber der Borniertheit im Umgang mit der Natur einnehmen kann. Auf der von Borgmann eingerichteten Bühne schlafen die Bergler auf Pressholzplatten unter dem Küchenklapptisch. Sie halten ihre Garderobe im Gefrierschrank frisch und horten Schi-Meisterschaftspokale auf dem Nachtkästchen.

Reichlich triebhaft

Unbestätigten Gerüchten zufolge soll es auf der Schattseite der Bergriesen aber auch reichlich triebhaft zugehen. Ein nervöser Arbeitsloser in Lederhosen (Max Mayer) beschmiert sich dann das Gesicht mit nougatbrauner Scheiße, wenn er in stockender Weißglut ein Stück Heimatprosa vorträgt. Eine gestrenge Dame im Dirndl (Katja Kolm) verschüttet Regelblut aus der Rübensaftflasche, um es im Verein mit ihrem Beschäler (Ingo Tomi) über eine Leinwand zu verstreichen: Angezeigt wird die Entstehung der österreichischen Nationalfarben aus dem Geist sexualneurotischer Komplizenschaft.

Sinnlos, Steinbuchs Assoziationen zu einem sinnfälligen Ganzen zu ordnen. Paarbeziehungen werden, der Einfachheit halber, als Terrorgemeinschaften denunziert. Das Gespenst des Kindesmissbrauchs schwebt unerlöst über dieser szenischen Installation, und am Schluss wird den blutigen Älplern ein Jesus (Bettina Kerl) geboren. Am schwersten wiegt vielleicht die Abwesenheit einer Sprachhaltung: Steinbuchs Texte ergehen sich in listenhaften Aufzählungen - ihr Metier ist die ahnungsvolle Andeutung.

So bleibt Herr mit Sonnenbrille ein uneingelöstes Versprechen: kein Herr, keine Sonnenbrille, kein Stück, gar nichts. Den gehätschelten Neigungsgruppen für szenisches Schreiben, deren Betrieb Steinbuch entspringt, steht noch viel Arbeit bevor. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe 22.1.2010)