Stark der neuen Sachlichkeit verpflichtet: der Pestalozzi-Hof in Döbling von Ella Briggs, die einzige Wohnhausanlage der jüdischen Architektin, die in Wien verwirklicht wurde

Foto: Wien Museum

Wien - 64.000 Wohnungen in rund zehn Jahren! Die 1923 gestartete Wiener Wohnbauinitiative sucht ihresgleichen. In der damals einzigen sozialistisch regierten Metropole Europas galt es, auf die extreme Wohnungsnot zu reagieren. Der Bau menschenwürdiger Wohnungen wurde deshalb neben Sozialpolitik und Bildungsreform zum Kernstück des "Roten Wien".

Eine Initiative mit positivem Nebeneffekt: Durch die rege Bautätigkeit hatte Wien die geringste Arbeitslosenquote im Land. Hilfreich erwies sich dabei auch die Taktik, das Bauen arbeitsintensiv zu gestalten, verzichtete man doch auf die wesentlich rationalere Plattenbauweise wie zum Beispiel in Frankfurt.

"Ich glaube nicht, dass sich weltweit etwas Vergleichbares findet", resümiert Andreas Nierhaus, der als Kurator für Architektur in der Ausstellung Kampf um Wien des Wien Museums das Kapitel zum sozialen Wohnbau gestaltet hat. "Es gab in den 1920er-Jahren in Berlin und Frankfurt ganz tolle Wohnbaukonzepte", hinter ihnen sei aber nicht dieses umfassende sozialreformerische Konzept gestanden. Allein der Umfang sei nicht zu vergleichen: Für "Neues Frankfurt" entstanden in den 1920er-Jahren 12.000 Wohnungen, etwa ein Fünftel des Wiener Volumens.

Der wesentliche Unterschied liege jedoch im Formalen: In Deutschland war man ganz dem neuen Bauen mit seiner Nähe zum funktionalistischen Stil des Bauhauses (Neue Sachlichkeit) verpflichtet, glaubte an das Ideal von Siedlung und Gartenstadt und verlegte die Bautätigkeit daher an den Stadtrand. In Wien wurde stattdessen innerstädtisch gebaut, "an einer großen vorhandenen Stadt weitergebaut", erklärt Nierhaus.

Reizvoll, aber leblos

Dabei wurde die ganze stilistische Bandbreite angewandt, denn die doktrinäre Bauhaus-Ideologie und der "Funktionalismus um seiner selbst Willen" waren nicht gut angeschrieben. Josef Frank, der als Intellektueller der damaligen Architektur den theoretischen Diskurs in Österreichs maßgeblich beeinflusste, sagte: "Modern ist das Haus, das alles Lebendige aufnehmen kann und dabei doch ein organisch gewachsenes Gebilde bleibt. Die moderne deutsche Architektur mag sachlich sein, praktisch, oft sogar reizvoll, aber sie bleibt leblos."

Die Funktionalismuskritik hat es nicht nur in Wien gegeben. Es sei aber auffällig, dass all jene, die ihn kritisch bewertet haben, marginalisiert wurden. "Übertrieben gesprochen: Man kennt sie nicht. In den großen Überblickswerken zur Architektur des 20. Jahrhunderts fehlen sie."

Josef Frank, der wie Oskar Strnd an der Technischen Universität studiert hatte, ließ aber - obwohl er Freiheit und Individualität zu Maximen der Gestaltung erhoben hatte - am Formenreichtum der neuen Gemeindebauten kein gutes Haar: "Das neue Wien macht den Eindruck, als würde hier überhaupt nicht gedacht. Was hier geschieht, sieht aus, als hätte es der Zufall auf die Straße geworfen, und fröhliche Dummheit grinst aus jedem Fensterloch." Insbesondere die "Palastkonzeption" und die Fortführung bürgerlicher, platzverschwenderischer Wohnungsgrundrisse kritisierte Frank.

Keine Frage, dass er für sein Gegenmodell, die Werkbundsiedlung in Lainz, die meistbeschäftigen Protagonisten des kommunalen Wohnbaus ignorierte: die Otto-Wagner-Schüler Karl Ehn und Franz Gessner. Ein Gemeindebau geht aber auch auf das Konto Franks: Der Leopoldine-Glöckel-Hof am Gaudenzdorfer Gürtel, der "Ringstraße des Proletariats". (Anne Katrin Feßler/DER STANDARD, Printausgabe, 20./21.2.2010)