Körbe mit Wurst, Brot, Wein und Schnaps: Wenn der Opa wollte, könnte er sich jeden Tag für den Rest seines Lebens betrinken.

Foto: Pistotnig

Zu seinem Geburtstag sind der Bürgermeister da und der Pfarrer und die Verwandten, der Gesangsverein und seine Jagdkollegen. Sie gratulieren ihm, und er versteht nicht alles, was geredet wird, es sind zu viele Leute und es ist laut. Trotzdem lacht er und seine Augen werden ganz klein. Er ist aufgeregt, denn hundert wird man nicht jeden Tag, seine Hand zittert, das tut sie sonst nie.

Der Opa trägt kein Hörgerät und eine Brille braucht er nur, um die Zeitung zu lesen. Wenn der Opa das Radio einschaltet, hallt die Stimme des Nachrichtensprechers im ganzen Haus. Und wenn er vergisst, es wieder abzuschalten, erklingen zwischendurch auch Schlagerlieder. Dem Opa sind die Schlager wurscht, wenn sie ertönen, fällt sein Kopf nach hinten und er beginnt zu schnarchen, dass er die Schlagerstimmen in die Flucht schlägt. Aber manchmal schnarcht der Opa auch ganz anders, dann atmet er ruhig ein, und beim Ausatmen haucht er ein ganz sanftes B. Buchhh. Wacht er auf, erinnert er sich nicht, geschlafen zu haben. Dafür liegt er nachts putzmunter im Bett.

Der Winter ist schwierig, die Kälte greift seinen Körper an, der ein Leben lang geschunden wurde und sich jetzt ausruhen darf. Wie ungewohnt für einen Menschen, der ein Sportlerherz hat, obwohl der Opa in seinem ganzen Leben kein Mal trainiert hat, nur geschuftet. Er versteht nicht, dass Leute laufen, klettern, Gewichte heben - wie sollte er auch? Er hat auf dem Feld gearbeitet, im Wald, immer an der frischen Luft. Und während der langen Wintermonate drängt es ihn schon nach draußen und er sehnt sich nach ein bisschen Wärme und Bewegung.

Er würde am liebsten sein Jagdgewand aus dem Schrank holen, sein Gewehr abstauben, den Rucksack packen, das Fernglas umhängen und in den Wald, hinauf auf den Hochsitz und mit etwas Glück dort draußen einen braunen Fleck sehen und beim Blick durch das Fernrohr etwas Spitzes entdecken: Einen Bock! Aber es zwickt was im Bein, der Puls geht viel zu schnell, mit den Augen ist auch etwas nicht in Ordnung, da bleibt er lieber zuhause.

Dabei hat ihn die Jagd sein Leben lang begleitet und sie ist für ihn neben dem Singen das einzige Hobby, das ihm einfällt. Zu Opas Zeiten redete man nicht von Hobbys, nur von Arbeit. Es gab kein Wohnzimmer, keine Couch, nur eine Stube, da saßen sie zusammen, nicht vor einem Fernseher, sondern vor dem Essen. Zu seinem 100. Geburtstag wird der Opa Ehrenmitglied der Jägerschaft, die größte Auszeichnung, die er je bekommen habe, sagt er. Man spürt, wie stolz er ist.
Wenn es draußen wieder wärmer wird, legt er sich in einen uralten, durchgesessenen Liegestuhl im Garten. Jetzt im Winter bleibt er in seinem Fernsehstuhl, den es gar nicht gäbe, wäre es nach dem Opa gegangen. So etwas braucht man nicht, hat er gesagt, als das Lederungetüm im Wohnzimmer stand. Irgendwann setzte er sich hinein. Lehnte sich zurück. Die Füße hoch. Mittlerweile hat er den ersten durchgesessen. Beim zweiten sagte er nichts mehr gegen den Kauf. Sein Schnarchen wurde früher von dem seiner Frau unterbrochen, die neben ihm auf dem Sofa lag, auch ihr Kopf war nach hinten gefallen und der Mund weit geöffnet.
Die Omi, die sich zum Ende zurückverwandelte in ein kleines Kind, das Angst hatte und nur mehr vor sich hinbrabbelte. Essen fiel ihr aus dem Mund. Sie umarmte und küsste die Schwiegertochter auf die Wange. Die Omi starb zuhause im Wohnzimmer, neben ihr die Schwiegertochter, die zur Mutter einer alten Frau und eines alten Mannes geworden war. Ist die Schwiegertochter nicht da, ist der Opa grantig und beleidigt, die Omi war traurig und ängstlich. Sie irrte mit ihren 94 Jahren durch das Haus und den Garten und wieder zurück.

Tag für Tag hat der Opa Schmerzen oder er spürt etwas. Das Herz, die Niere, die Leber und die Augen, überhaupt alles. Ich muss zum Arzt, sagt er, mir geht es nicht gut. Er will zum Hausarzt, zur Augenärztin, ins Krankenhaus gefahren werden. Er nimmt Tabletten, die ihm verschrieben werden und solche, die ihm nicht verschrieben werden. Er nimmt die, die abgelaufen sind und jene, die seiner Frau gehörten. Helfen tun sie alle nicht, sagt er. Er jammert und das macht ihn lästig. Bitte Opa, hör endlich auf.

Woran soll man denken, wenn man dem Tod so nahe ist, dass er die einzige Zukunft ist, die man noch hat? Was soll man jemanden schenken, der 100 wird? Auf der Einladung steht zum Glück: Bitte keine Geschenke. Trotzdem bekommt er Körbe, gefüllt mit Wurst, Speck, Brot, Wein und Schnaps. Wenn er wollte, könnte er sich jetzt jeden Tag für den Rest seines Lebens betrinken.
Eine Kollegin erzählt von einer Frau, die bald ihren 101. Geburtstag feiert und für jedes Lebensjahr etwas Außergewöhnliches geplant hat. Zum Hunderter fuhr sie mit einem Doppeldecker, mit 95 fuhr sie noch Jet-Ski. Wir sind beeindruckt. Wenn schon alt, dann mit Elan, so wollen wir auch werden, nur nicht krank und gebrechlich. Das macht Angst.

Nur der Opa will nicht Jet-Ski- fahren, er möchte die Welt nicht mehr erobern, sie wird ohnehin immer kleiner. Will er wohin, muss er gefahren werden, zu Fuß sind die Wege zu weit. Außerdem, der Opa kann nicht Skifahren, aber er kann Geschichten erzählen, die sich irgendwann wiederholen und manchmal kommt er durcheinander, verwechselt die Jahre. Wer kann es ihm verdenken, es gibt schon so viele. Einen Monat vor seinem Geburtstag erscheint ein Artikel in der Gemeindezeitung über die Ersten 99 11/12 Jahre, acht Seiten ist er lang, denn der Opa kann sich an vieles erinnern. Denkt er daran, wenn er in seinem Stuhl sitzt? Welche Dimension hat Zeit? Wenn er an früher denkt, wann ist dann ,früher‘? Vor zehn, 20 oder 50 Jahren? An den Ersten oder den Zweiten Weltkrieg?

Sein Leben folgt Ritualen

Er hört um sieben die Nachrichten im Radio, zum Frühstück die um acht, am Vormittag liest er Zeitung, dann Mittagessen, Mittagsjournal und Landesnachrichten, Abendessen um fünf und wieder Radio, Kärnten heute um sieben und ZIB 2 um halb acht. Sein Leben folgt Ritualen, die er einhält, sie ordnen seinen Tag, geben ihm Halt, in einer Welt, in der er es für Menschen seines Alters keine Orientierung mehr gibt. Was soll man mit Wörtern wie Handy, wenn man mit Saudirnen und Rossknechten aufgewachsen ist? Aufstehen und arbeiten, im Holzschlag, als Berufsjäger, Gutsverwalter - Jobhopping nennt man das heute. Nur manche Begriffe gab es damals schon und gibt es immer noch. Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit zum Beispiel.

Der Opa weiß noch Bescheid, über jeden Verkehrsunfall und worin sich die Koalition nicht einigen kann. Er weiß, wie das Wetter werden wird und kennt die Namen der Regierungsmitglieder. Doch, wenn er die Zeitung aufschlägt, sucht der Opa als erstes die Todesanzeigen. Mittlerweile kennt er kaum noch einen Namen, nicht umsonst ist er der älteste Gemeindebürger. Darauf ist er stolz. Irgendwann wird sogar das Leben selbst zur Leistung.

Was der Opa geleistet hat: Er hat als Fahrlehrer, Holzhändler, Landwirt auf gepachteten Bauernhöfen, als Wirt, Organist und als Jäger gearbeitet. Er hat vier Kindern und seiner Frau ein Dach über dem Kopf gegeben, er hat mit Erspartem ein Haus gekauft, er hat es renoviert. Er hat seiner Enkelin Schnapsen beigebracht. Opa, komm, spielen wir! Die fleckig, raue Hand, mit denen er die Karten hält, sein Bass, wenn er zwei davon herauszieht und ansagt: Vierzig. Die Enkelin ist ausgezogen, die Schnapskarten irgendwo in einer Lade, ganz unten.

Der Opa wird zärtlicher, jetzt darf er es. Nicht nur sein Körper, auch er selbst ist weicher geworden. Auch seiner Frau gegenüber, der Opa half der Omi die Schürze zuzuknöpfen. Er erinnerte sie daran, Tabletten zu nehmen. Am Abend sagte er zu ihr: Omi, gehen wir schlafen. Er nahm einen Stock und sie ihren. Gemeinsam stapften sie die steile Stiege hinauf, eine Stufe, zwei, drei. Gab es eine Zeit, in der er sie Julie genannt hat? Was war, bevor sie zur Omi wurde, vor über 30 Jahren. Wer war sie da? Gab es überhaupt eine Julie und einen Jakob? Zwei Namen, wie aus einem Liebesroman. Namen, die nie genannt werden. Es sind Omi und Opa.
Er hatte Angst um die Omi, die wieder zum Kind wurde, die streunende Katzen fütterte und vor sich hin redete, manchmal die ganze Nacht durch. Die Frau, die so lang an seiner Seite gelebt hatte, dass er dachte, es gebe kein Leben ohne sie und dann war es plötzlich so. Sie gehe ihm ab,sagt er, sie war der letzte Mensch, der in seiner Zeit lebte.

Der Opa kommt 1910 auf die Welt, in dem Jahr gibt Österreich-Ungarn dem annektierten Bosnien und Herzegowina eine Verfassung. Wikipedia listet eine Reihe von Personen auf, die in diesem Jahr geboren wurden, nur bei ganz wenigen finden sich kein Kreuz und Todesjahr dahinter. Ein österreichischer Schriftsteller hat denselben Geburtstag wie der Opa, doch der ist schon lange tot, schon seit 37 Jahren. Seinen Sohn hat der Opa überlebt. Der Sohn kommt bei einem Unfall ums Leben, plötzlich und unerwartet, mit 56 Jahren. Gerade einmal ein halbes Leben.

In seinem Kopf reichen die Geschichten weit zurück. Der Erste Weltkrieg, das Zuhause, das er mit 16 verlassen hat, um Arbeit zu finden. Menschen, denen er begegnet ist. Wie viele Menschen haben in 100 Jahren Platz? Wie viel Erinnerung, was ist gespeichert und was vergessen? Er hat nicht vergessen, dass sein Vater zu ihm, damals ein kleines Kind, sagte: „Stell dir vor, der Krieg ist ausgebrochen!", er hat nicht vergessen, dass der Chef einer italienischen Holzfirma sagte: „Ich kenne Sie, für Sie lege ich die Hand ins Feuer", er hat nicht vergessen, dass die Jugoslawische Volksbefreiungsarmee sein Haus durchsuchte und sagte: „Wenn wir auch nur eine Patrone finden, bist du tot!", er hat nicht vergessen, dass er seinen ersten Bock am 1. Oktober 1929 erlegte. Ein Mensch als Lexikon an Erfahrungen, Erlebnissen und Eindrücken.

An Festtagen sagt der Opa, dass es wohl sein letzter Geburtstag sein wird, das letzte Weihnachten oder das letzte Ostern, bei dem er dabei sein kann. Bald, sagt er, würde er da oben liegen. Mit da oben meint er nicht den Himmel, sondern den Friedhof, der im Ort auf einer kleinen Anhöhe liegt und auf dem der Platz für ihn schon reserviert ist. Neben seiner Frau. Gehen wir schlafen, Omi. (Silvia Pistotnig, DER STANDARD, Printausgabe, 20.02.2009)