Der kniende Paparazzo arbeitete sich langsam weiter vor - bis seine Flüche in der Kordel zu spüren waren: Rottenberg (Mitte) im Zauneinsatz

Foto: DER STANDARD/Matthias Cremer

Wien - Es ist an der Zeit, ein Missverständnis aufzuklären: Der Opernball ist mitnichten eröffnet, sobald es "Alles Walzer" heißt: Erst wenn Fritz "Gemma!" sagt, ist der Ball eröffnet. Vorher, also bevor Fritz "gemma!" ruft und sich die livrierten Herren, die im ORF bloß abschätzig "die Kordelhalter" genannt werden, im Gänsemarsch vom Parkett machen, ist an öffentliches Walzertanzen nicht zu denken. Da kann man hinter der Samtkordel gerade einmal stehen, schauen und atmen. Obwohl auch Letzteres da mitunter schwerfällt.

Fritz hat auch einen Nachnamen. Bestimmt sogar. Aber "in der Livree" - also weißbesockt, weißbehandschuht, kordelhaltend - "reden wir uns nur mit den Vornamen an", sagt Fritz. Fritz steht links von mir. Rechts steht Konstantin. Gemeinsam sind wir drei der 120 lebenden Zaunpfähle des Balles. Wir sind die Grenze. Die Wand aus Shakespeares Sommernachtstraum. Wir trennen Volk von Kunst. Wir halten das Eröffnungsparkett frei. Mit einer roten Schnur.

Drei Stunden stehen. Ein Schnürl halten. Der Lohn: ein Ticket, 48 Euro - und der beste Blick, erste Reihe fußfrei. Das klingt nach einer leichten Übung.

Aber außer mir glaubt das hier keiner. "Sie werden Ihr blaues Wunder erleben", lachte Janos Molnar eine Woche vor dem Ball. Molnar war früher beim Staatsopernballet. Heute leitet er die Opern-Komparserie. Er teilt Statisten und Hausmitarbeitern den Zaun-Job zu. Wieso da nur Männer stehen? Molnar grinst. Wieso? Das würde ich schon merken.

"Blaues Wunder" steht für "blaue Flecken": Im American Football hießen wir "Defense Line" - und wären gut gepanzert. Wir würden nicht nur von hinten attackiert. Wir hätten Pausen zwischen den Angriffswellen. Und: Wir dürften uns wehren.

Kein Druckausgleich

Der Druck baut sich langsam auf. Unmerklich zunächst. Mütter wollen debütierende Töchter knipsen, ein schwedisches Paar will hin, wo ich nicht weg darf: "Das ist seit 15 Jahren unser Platz." Bald ist hinter mir nur noch ein kompakter Leiber-Block. Aber immer noch strömen Menschen dazu. Ich will gar nicht wissen, welche Körperteile sich gegen und in meinen Rücken, meinen Hintern oder meine Beine drücken. Oder wem sie gehören.

Die Gesichter, die ich aus dem Augenwinkel sehe, lächeln. Alle. Man sagt "Pardon" und "Hoppla". Eine Männerstimme identifiziert alle Wirtschaftsköpfe in den Logen. Eine Frau fände es toll, wenn Ulrich Habsburg statt Heinz Fischer in die Mittelloge einzöge. "Das wäre doch eleganter." Während der Hymne tritt mir jemand mehrfach ins Wadel. Richtig fest.

"Nimm nichts persönlich" hatte Konstantin gewarnt, "und geh ja keinen Millimeter vor." Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich auch Fritz und er mit ihrem ganzen Gewicht nach hinten lehnen. Lächelnd, versteht sich.

Der zwischen uns knieede Fotograf, mosert vor sich hin: "Ich seh nix. Ich seh nix." Dabei versucht er, unbemerkt und die Kordel am Kehlkopf, vor zu rutschen: Konstantin und ich spüren seinen Atem in der immer straffer werdenden Schnur. Konstantin zwinkert. Wir haben die gleiche, böse, Idee: Sollen wir einmal scharf mit dem Handgelenk zucken? Wir widerstehen. Und lächeln.

Knapp bevor er sich selbst stranguliert, steht der Paparazzo auf. Wutgeheul von hinten: Die Ballbesucher hatten ihn nach vorne gelassen, weil er versprochen hatte, am Boden zu bleiben.

Nur: Dort hätten ihn die Debütanten totgetrampelt. Zwischen die Paare am Rand und die Kordel passte beim Donauwalzer kein Fuß mehr. "Alles Walzer!"

Fritz löste die Spannung in Beinen und Oberkörper: "Gemma!" (Thomas Rottenberg/DER STANDARD, Printausgabe, 13./14. Februar 2010)