In der kanadischen Stadt Vancouver gibt es Menschen, die freiwillig unter dem Nachthimmel Schlange stehen. Sie warten nicht etwa auf die Öffnung der Suppenküche. Sie wollen eine Eigentumswohnung in einem der luxuriösen Glastürme zum Preis von 250.000 bis 600.000 Euro kaufen. Damit sie ihnen niemand vor der Nase wegschnappt, verbringen sie die Nacht vor dem Verkaufsbüro. So verkauften sich bereits am ersten Tag 163 von 214 Wohnungen im Hochhaus "The Mark" im Yuppie-Viertel Yaletown.

Es ist, als habe es nie eine Wirtschaftskrise gegeben. Zwar haben auch in der Hafenmetropole am Pazifik die Häuserpreise kurzzeitig stagniert. Seit dem Tief im Jahr 2008 haben sie sich aber praktisch wieder erholt. Allein in der Innenstadt sind ein Dutzend neuer Wohntürme in Vorbereitung, denn in der City hat es immer noch Platz für 30.000 weitere Bewohner. Die neue U-Bahn zum Flughafen ist bereits fertiggebaut.

Nicht nur für viele Vancouveriten, sondern auch für andere Kanadier ist die weltweite Wirtschaftskrise weitgehend glimpflich abgelaufen. Ein Subprime-Mortgage-Debakel gab es in Kanada nicht. Der kanadische Banken- und Finanzsektor war und ist viel stärker reguliert als in den USA. Kanadas Banken gelten als sehr solide; niemand musste befürchten, dass sie pleite machen könnten. Die Banken gaben nicht im großen Stil Hypotheken ohne Anzahlung heraus.

"Seid mehr wie die Kanadier - konservativ, langweilig und relativ sicher" , riet der britische Journalist und Romanautor John Lanchester der Welt.

Kanada erlebte zwar Ende 2008 auch eine Rezession, aber sie dauerte nur drei Quartale. Betroffen waren vor allem die Fabriken für Industrie- und Konsumgüter. Die Autofirmen, die für den amerikanischen Markt produzieren, mussten Zehntausende von Arbeitern entlassen. Heute heuern Konzerne wie Toyota aber bereits wieder Leute an.

Für Kanada hätte es viel schlimmer ausgehen können, denn rund 80 Prozent der Exporte gehen in die USA. Aber andere Abnehmer werden zunehmend wichtiger, allen voran China.

Rücklagen aus elf Jahren

Was Kanada vor allem half, war die Tatsache, dass das Land während elf Jahren vor der Krise jährliche Überschüsse erwirtschaftet hatte. Vor allem von 2003 bis 2008, als die kanadischen Rohstoffe phänomenale Preise erzielten, konnte man Geldpolster anlegen. Die kanadische Regierung ist daher in der bequemen Lage, über zwei Jahre 25 Milliarden Euro in die Wirtschaft zu pumpen und den Kanadiern mit Steuersenkungen zu helfen. In schwierigen Zeiten lief die inländische Konjunktur relativ, denn die Bürger waren nicht so verschuldet wie in anderen Ländern.

Jetzt erholen sich die Energiepreise langsam. Die Welt braucht kanadisches Gold, Erdöl, Naturgas, Uran, Kalidünger - und nicht zu vergessen: Agrargüter wie Linsen und Erbsen. In Vancouver herrscht Zuversicht. Unternehmen wie NovaGold und Taseko bauen neue Minen für die Gold- und Kupfergewinnung. Im Gegensatz zu anderen Städten wachsen die Türme in Vancouver immer noch in den Himmel. Ganze 201 Meter hoch ist ein neues Hotel namens Shangri-La - Synonym für ein Paradies auf Erden. (Bernadette Calonego/DER STANDARD, Printausgabe, 13./14.2.2010)