Wien - Für eine "Schwerpunktverlagerung zu angewandter Forschung" sprach sich Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl in einem APA-Interview aus. Grundlagenforschung in Österreich möchte der Wirtschaftskammer-Chef "über Brüssel" abgewickelt sehen. Die EU investiere sehr viel in Grundlagenforschung, die nationalen Anstrengungen sollten daher einerseits in Richtung angewandte Forschung und andererseits "in die Fertigungsüberleitung" abzielen.

Reaktion

"Verwundert" über Leitls Aussagen zeigte sich Wissenschaftsministerin Beatrix Karl am Donnerstag. "Grundlagenforschung und angewandte Forschung sind zwei Seiten einer Medaille. Es braucht beides", so Karl in einer Aussendung nach einem Treffen mit dem Präsidenten des Wissenschaftsfonds FWF, Christoph Kratky. Sie werde sich im Rahmen des FTI-Strategieprozesses der Regierung für die weitere Stärkung der Grundlagenforschung in Österreich einsetzen.

Karl bekannte sich auch zur Wiedereinführung der im Vorjahr sistierten Zahlung von Overhead-Kosten für FWF-Projekte. Damit wurden vor allem Universitäten Kosten abgegolten, die ihnen durch ein FWF-Projekt eines ihrer Mitarbeiter entstehen. Die Regelung wurde 2008 unter Karls Vorgänger Johannes Hahn eingeführt, aufgrund von Budgetproblemen aber im April 2009 ausgesetzt. Auch für die Implementierung von Exzellenzclustern - als Pendant zum Kompetenzzentrenprogramm COMET für die angewandte Forschung - will sich Karl stark machen

Kratky unterstrich mit Verweis auf Länder wie Schweden und Israel, dass "kein Innovation Leader ohne Grundlagenforschung auskommt." Er verwies außerdem darauf, dass sich forschungsstarke Unternehmen verstärkt im Umfeld von forschungsstarken Universitäten ansiedeln würden.

"Ein provokativer Scherz"

Für eine "Schnapsidee" hält der Vorsitzende der Universitätenkonferenz (Uniko), Hans Sünkel, Leitls Vorstoß für eine "Schwerpunktverlagerung" bei der Förderung von der Grundlagen- hin zur angewandten Forschung. Er hoffe ernsthaft, dass das nur "Wahlkampfgetöse" im Vorfeld der Wirtschaftskammer-Wahlen sei, so Sünkel.

Sünkel hält Leitl grundsätzlich für einen "außerordentlich intelligenten, enorm engagierten und zukunftsorientierten Mann, der Aussagen nicht ohne Überdenken der Folgewirkungen trifft". Ein Zurückfahren der Förderung für Grundlagenforschung sei aber "derart absurd, das kann nur ein provokativer Scherz sein". Damit würde man "jenen Ast abschneiden, auf dem wir sitzen": "Die Grundlagenforschung ist nach meinem Dafürhalten jene tragfähige Plattform, auf der die angewandte Forschung aufbauen kann. Büßt sie an Tragfähigkeit ein, hat auch die angewandte ein Stabilitätsproblem."

Die Grundlagenforschung primär über die EU zu finanzieren, hält Sünkel für eine "Kindesweglegung". Damit verabschiede man sich vom Gedanken, dass man im eigenen Land Spitzenforschung aufbauen könne. Eine Rücknahme der Förderung für Grundlagenforschung führe zu einem Rückgang der Innovationsfähigkeit eines Landes.

Vergleich mit dem Ostblock

 

Mit den "nachweislich gescheiterten" Forschungsgepflogenheiten im ehemaligen Ostblock verglich der Präsident des Wissenschaftsfonds FWF, Christoph Kratky, Leitls Vorstoß. Im Ostblock sei Grundlagenforschung als esoterisch abgelehnt worden, mit dem Erfolg, "dass es 50 Jahre auch keine Innovation gab". "Solche Konzepte auszugraben, ist erschütternd", so Kratky. Es sei legitim, dass der Chef der Wirtschaftskammer Klientel-Interessen vertrete, räumte der FWF-Präsident ein. Wenn Leitl allerdings behaupte, Österreich brauche keine Grundlagenforschung, so sei das mehr als kurzsichtig und widerspreche "jeder Empirie".

Im internationalen Vergleich zeige sich, dass die "Innovations-Leader" - wie etwa die skandinavischen Staaten, die Schweiz oder Israel - durchwegs sehr viel, und deutlich mehr als Österreich in die Grundlagenforschung investieren. Dabei würden längst nicht alle innovativen, erfolgreichen Länder hohe Summen in die angewandte Forschung pumpen.

Wirtschaftsinteressen

Auch in puncto Ansiedlung von innovativen Betrieben würde sich eine starke Grundlagenforschung als wichtigerer Faktor erweisen als etwa steuerliche Anreize, ist Kratky überzeugt. "Wirklich innovative Unternehmen sitzen heute dort, wo auch starke Universitäten beheimatet sind, etwa in Oxford, Cambridge, an der US-Westküste oder in Zürich", so der FWF-Präsident. Wenn Leitl gegen die Grundlagenwissenschaft sei, vertrete er daher auch nicht die Interessen der Wirtschaft.

Kratky wies auch Forderungen Leitls zurück, die Grundlagenforschung in Österreich nur über die EU abzuwickeln. "Die EU-Rahmenprogramme, die das große Geld zu vergeben haben, sind keine Grundlagenforschung, sondern F&E-Programme", so Kratky. Für Grundlagenforschung reserviert seien derzeit lediglich die Projekte des European Research Council (ERC), dotiert mit einer Milliarde Euro für die ganze EU. Diese Summe sei "ein winziger Prozentsatz" der Mittel für die Grundlagenforschung und ein Verweis auf diesen vergleichsweise kleinen EU-Topf daher "zynisch".

Hintergrund

Leitls Wunsch nach mehr angewandter Forschung war von Vertretern der Grundlagenforschung in den vergangenen Wochen immer wieder kritisiert worden. So wurde der Wirtschaftskammer-Präsident in einem offenen Brief von Wittgensteinpreisträgern zitiert, wonach Österreich "keine Grundlagen-, sondern angewandte Forschung" brauche. Die Wittgensteinlaureaten zeigten sich "verwundert" und sorgten sich, dass der Aufholprozess in der heimischen Forschung zum Stillstand kommen könnte.

Leitls Vorschlag

Darauf angesprochen dementierte Leitl die Aussage nicht, betonte aber, dass sie "aus dem Zusammenhang gerissen" sei. Für die Zukunft kann er sich nach eigenen Angaben eine "Drittel-Lösung" bezüglich der Mittel vorstellen. Ein Drittel sollte - über EU-Projekte - für Grundlagenforschung reserviert sein. Die heimischen Wissenschafter hätten genügend Partner in Europa, daher sollten Projekteinreichungen über Brüssel kein Problem sein. Der Rückfluss von Forschungsgeldern aus den EU-Töpfen sollte ohnehin verbessert werden, so Leitl.

Ein weiteres Drittel sollte über nationale Kanäle für die angewandte Forschung zur Verfügung stehen und das letzte Drittel für den Bereich "Fertigungsüberleitung". Es reiche nicht aus, Patente auszuarbeiten, diese müssten in Prototypen und letztendlich in fertigungsreife Produkte münden.

Anhebung der Forschungsprämie gefordert

Um die Forschung in Klein- und Mittelbetrieben (KMU) anzukurbeln, fordert Leitl eine Anhebung der Forschungsprämie von acht auf zwölf Prozent. Für spezielle Projekte der bedeutsamen Sektoren Energie und Umwelt sollte die Prämie für KMU zusätzlich auf 40 Prozent angehoben werden.

An den bestehenden Institutionen der Forschungsförderung will Leitl derzeit nichts ändern. Von Kürzungen beim Wissenschaftsfonds FWF - der in erster Linie Grundlagenforschung finanziert - möchte der Wirtschaftskammer-Präsident nicht sprechen. Es sollte vielmehr auch bei diesen Projekten "der Anwendungsfokus" gestärkt werden. "Ich wünsche mir eine Motivation auf Verwendbarkeit der Erkenntnisse", sagte Leitl. (APA/red)