Szene aus Elfriede Jelineks "Das Werk".
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Wien - Er, Nicolas Stemann, wisse nicht, ob Elfriede Jelineks Zugang zur alpinen Bergwelt weniger touristisch sei als sein eigener. Er, der Theaterregisseur, 34 Jahre alt, sei zunächst einmal ein Platt- und Flachländer.

Von dem Tauernkraftwerk in Kaprun wisse er auch nicht mehr als dasjenige, was man nachlesen könne: 1955, im Jahr des Staatsvertrags, wurde das gigantische Speicherkraftwerk feierlich eröffnet. Hinter den Staumauern, aber auch unter den Sprengungsresten der Granite und Schiefer lägen die Leichen vieler namenloser ZwangsarbeiterInnen, die von den Nazis zur Dienstleistung gepresst worden waren.

Immerzu ist es die schroffe Natur, die mit Schaufel und Spitzhacke dem Menschen untertan gemacht wird. Das Wasser wird gehegt und auf die Turbinen geleitet. Es klappert die Knochenmühle am rauschenden Bach.

Elfriede Jelineks "Das Werk" ist ein tonnenschwerer Wortschwall: "Nur das Wasser genügt sich selbst, allerdings fängt es auch bei hundert Grad zu brennen an, äh, nein, ich meine zu kochen, egal, es genügt uns, wenn es ins Rätsel Tauernwerk hineinfällt und auf der andren Seite zerschmettert wieder rauskommt." - Und so immer weiter, selig gurgelnd durch das Bachbett von 160 Seiten, eine Last von Leichen und Phrasen zähflüssig fortschwappend. Nicolas Stemann, einer der auffälligsten Jungregisseure im Theaterbetrieb, muss das ursprünglich Einar Schleef gewidmete Stück jetzt zur Uraufführung bringen. Am Freitag, 19 Uhr, hebt sich der Vorhang im Akademietheater. Da heißt es: Alles Alpen!

Grundrauschen

Stemann sagt: "Man ertrinkt zunächst in den Fluten - in diesem Sprachsturzbach, diesem Wasserfall. Der muss von der Inszenierung gelenkt werden, bis er eine Turbine trifft, um Energie zu erzeugen, und kein Grundrauschen entsteht. Das ist Schwerarbeit, das können Sie mir glauben!"

Wie sähe die aber aus? "Ich gestatte mir lange Zeit einfach ein Nichtwissen. Ich habe mit dem ungestrichenen Text angefangen. Habe mir großteils junge SchauspielerInnen ausgesucht, so bis 30 Jahre. Im Verlauf der Probenarbeit ergeben sich dann szenische, bildliche, musikalische Vorgänge. Und manchmal tut es dem Text gut, wenn man ihn einfach nur dahinfließen lässt." Als SprecherInnen treten auf: Heidi und Geißenpeter, Hänsel und Tretel (sic!), Mütter, die Autorin - doch keine Theaterfigur, nirgends. Stemann: "Die Sprache ist ganz klar die Hauptfigur. Nun muss ich dem Zuschauer die Möglichkeit geben, einzusteigen. Das Verstehen läuft weniger über die Ratio. Aber das geht nicht wie mit Beuys: Ich denke mit dem Knie, und dann kommt das schon hin. Nein, ich muss ein künstlerisches Verstehen erzwingen." Nun schreibt Elfriede Jelinek auch gegen das Theater an - eine selige Sadomasochistin, deren Burg-Gipfelbegegnung mit dem verstorbenen Einar Schleef 1998 zu einer Aneinanderreihung von Unterwerfungsübungen führte.

Schleef schritt über Jelineks Sprachteppich. Warf sich vor Peymann auf die Knie, als das Sportstück wegen Überlänge zu entgleisen drohte. Jeder bekriegte jeden an diesem Abend. Am Schluss blieben erschöpfte Sieger zurück. Stemann: "Es tut dem Text sehr gut, sich gegen ihn zu wehren. Wobei sich der Text dann auch gegen mich wehrt. Ansonsten bleibt mir ja erst einmal nichts anderes übrig, als nicht Schleef zu sein." Jelineks Umwühlen der schuldbeladenen Vergangenheit ist die Begegnung mit abgelegter Zeit: "In der Rede des Stückes gibt es immer wieder den Versuch, über sich selbst hinauszuwollen: Wir müssen weiterleben, den Rest, die Opfer, kann man getrost vergessen. Das ist mit Jelineks Sprache nicht auszudrücken, ohne gleich wieder in den Zynismus, der in diesem Wunsch liegt, geworfen zu werden."

"Eine große Qualität, aber zugleich auch das Problem: Schafft fortgesetzte Kritik à la Jelinek ein Bewusstsein für die Schlechtigkeit der Verhältnisse, oder schwächt sie die Handlungsfähigkeit? Die Gefahr allgemeiner Gleichgültigkeit ist erst einmal größer, als dass wir einer neuen faschistischen Gefahr erliegen." Europa höre nicht auf, aus seiner Vergangenheit zu lernen. Vielleicht vergisst es darüber: in der Gegenwart eine Wirklichkeit zu schaffen. (Ronald Pohl/DER STANDARD, Printausgabe 09.04.2003)