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John Maxwell Coetzee wird am Dienstag 70 Jahre alt.

Foto: Reuters

Adelaide/Wien - Für alle diejenigen, die bis zum heutigen Tage nicht gewusst haben, wer Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee ist, gibt es eine betrübliche Mitteilung: Leser seines neuen, überdeutlich autobiografisch getönten Romans Sommer des Lebens (verlegt bei S. Fischer) werden über die desaströse Verfassung des südafrikanischen Apartheid-Regimes in den 1970er-Jahren ausreichend in Kenntnis gesetzt.

Sie erfahren, wie eine bornierte Buren-Gesellschaft das karge Land in den Provinzen Ost- und Nord-Kap verwahrloste: pausbäckig, Plätzchen backend, Schafe scherend, Hammel schlachtend. "Schwache" Kerle - solche wie der 30 Jahre junge, angelsächsisch erzogene Coetzee, der Gedichte schrieb und sich als Aushilfslehrer in der Kap-Provinz eher mühsam durchschlug - galten als verachtungswürdig.

Coetzee war kein ganzer Mann. Die das von ihm behauptet, muss es wissen: Es ist eine brasilianische Tanzlehrerin, die den als Snob Verkleideten 1973/74 brüsk zurückwies. Sommer des Lebens ist das als Autobiografie getarnte Buch eines verpassten Liebesfrühlings: Die Frauen, so ergibt eine Reihe von erfundenen Recherche-Interviews, fanden Coetzee übereinstimmend unkörperlich, zwanghaft, linkisch.

In Sommer des Lebens tönt alles glaubwürdig. Doch nichts stimmt, sobald die Rede auf diesen einen, bleichen Intellektuellen kommt, der von sich seit jeher in der dritten Person Singular zu sprechen pflegt und sich selbst als großes Rätsel behandelt. Coetzee ist sich selbst das nächstliegende Thema. Doch als Chamäleon schreibt er um sein Leben. Er lädt umso hartnäckiger zur Betrachtung ein, je bestimmter er alle Zudringlichkeiten von sich abwehrt. Wer anderes behauptet, muss nur die Verschalungen aufknacken, die so grandiose Romane wie Warten auf die Barbaren (1980) oder Die jungen Jahre (2002) vor jedem Zugriff von indiskreter Seite bewahren.

Die Leser bekommen dafür von Coetzee um die Ohren geschlagen, wie man ansässige Schwarze im Apartheid-Regime behandelte. Sie wurden als Landarbeiter gehalten und als Dienstleister von den "Afrikaans" sprechenden Buren mit Nettigkeiten bedacht. Der Südafrikaner Coetzee, der 2003 den Nobelpreis erhielt und heute im australischen Adelaide auffällig zurückgezogen lebt, hat nichts vergessen: wie man mit den Unterdrückten umsprang. Wie er seinem verwitweten Vater beistehen musste; wie er mit körperlicher Arbeit jene Verpuppungsphase übertauchte, die seinem Hervortreten als Autor von Weltliteratur quälend lange voranging.

"Bin gestorben!"

Sommer des Lebens ist der Schlemihl-Roman eines unüberschätzbar Großen: Coetzee erzählt, dass er gestorben sei. Ein reichlich täppischer Biograf klappert daraufhin eine Liste von Lebensmenschen ab, die er mit indiskreten Fragen nach dem "wahren" Coetzee bis aufs Blut reizt. Das Zeitalter der gehässigen Promi-Kultur durchdringt mit hässlichen Ausdünstungen Coetzees Sphäre. Der Weltliterat feit sich gegen die Zumutung, indem er sich vorauseilend für tot erklärt.

Sommer des Lebens ist ein bestürzendes Buch: In seiner kunstvollen Indirektheit straft es einen Betrieb Lügen, der die Literatur preisgibt, um sich lieber um "Realien" zu kümmern, die alles erklären sollen - und doch so wenig besagen. J. M. Coetzee, die Wandererfigur, die eher zufällig in Australien gestrandet zu sein scheint, wird heute 70 Jahre alt. Vor den noch kommenden Büchern muss einem wohltuend bange sein. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 09.02.2010)