Die Deckerle und die Schwester: "Ich habe plötzlich den Geruch von der ganzen Deckerle in der Nase. Es ist ein etwas süßlicher Geruch, ein wenig muffelnd vielleicht. Ja, die Erinnerung an ihren Geruch lässt sie mir jetzt mit ihrem ganzen Wesen vor meinem inneren Auge erscheinen, wie sie im Sessel vor ihrer Türe sitzt und die ersten Sonnenstrahlen im Frühling mit geschlossenen Augen einatmet.

Bild: privat

"Mirbe Nus Kupfl: 20 dag. glates Mehl, 10 dag Margarine, 2 dag Zucker, etwas Zalz, 2 dag Germ. Eslefl Milch. Mit Nus fielen oder Mohn. Zehr gutt." Genau so steht es auf dem losen Zettel des handgeschriebenen Rezepts für mürbe Nusskipferln, der vor mir auf der Arbeitsfläche meiner kleinen Küche liegt. Die Zutaten liegen auch schon bereit. Doch wie soll ich beginnen? Ich kenne den Geschmack, kann mich genau an ihn erinnern, weiß, wie diese Kipferln aussehen sollen, wenn sie fertig sind. Mir ist ein wenig ratlos zumute. Zuerst muss ich den Teig zubereiten. So viel steht fest. Wahrscheinlich muss ich diesen Teig auch lange kneten und danach ruhen lassen. Plötzlich wendet sich mein Blick von dem losen Zettel ab und schweift durch das Fenster in den Himmel. Meine Gedanken folgen ihm.

Das Rezept hinterließ die Deckerle. Sie ist schon vor vielen Jahren gestorben. Jetzt, da ich aus dem Fenster blicke, über das von Hand geschriebenen Rezept gebeugt, sehe ich die mürben Nusskipferln vor mir, kann sie förmlich riechen. Mehr noch: Ich habe plötzlich den Geruch von der ganzen Deckerle in der Nase. Es ist ein etwas süßlicher Geruch, ein wenig muffelnd vielleicht. Ja, die Erinnerung an ihren Geruch lässt sie mir jetzt mit ihrem ganzen Wesen vor meinem inneren Auge erscheinen, wie sie im Sessel vor ihrer Türe sitzt und die ersten Sonnenstrahlen im Frühling mit geschlossenen Augen einatmet. Wie sie den einen Kübel mit ihren Ausscheidungen zur Latrine schleppt, jeden Morgen, jeden Abend, und wie sie mit dem anderen morgens Wasser holt, wie beschwerlich dabei ihr Gehen ist. Wie sie meine Stirn streichelt, sanft und bedächtig. Wie ihre Augen blicken, wie sie schauen, wach und wissend. Wie sich ihre Haut anfühlt, weich und schlaff, aber lebendig. Wie sie ihr Kopftuch trägt, ein braunes mit weißen Fransen, und ihre blaue Schürze, tagein, tagaus, mit den vielen kleinen Blümchen drauf. Wie sie behäbig an dem alten Herd stehend Malzkaffee zubereitet für mich und meine Schwester, obwohl unsere Mutter strikt dagegen ist. Wie wir Kinder trockene Semmeln in die süße braune Brühe tunken, die uns die Deckerle in Blechhäferln reicht. Kann es sein? Vielleicht entfremdet die Zeit auch manchmal die Erinnerung an Gerüche.

Die Deckerle war gebürtige Tschechin und ist laut den Erzählungen schon vor dem Krieg nach Österreich gekommen. Hier heiratete sie einen Ternitzer Boxer, den Herrn Decker. Ich weiß nicht, wie erfolgreich er im Kampfsport war. Sie erzählte auch kaum von ihm. In meinen ersten Lebensjahren entstand da eine innige Beziehung zu dieser alten Frau. Da sie unterhalb unserer Wohnung lebte und genügend Zeit zur Verfügung hatte, gab sie acht auf uns zwei Geschwister, während die Eltern in der Arbeit waren. Sie war mir Mutterersatz, aber doch auch viel mehr. Sie war wie eine alte Freundin, mit der man Scherze treiben konnte und Verbotenes tun.

Eines Tages hielt sie für mich eine Überraschung parat: Sie öffnete ihr volles, graues Haar, das vom Kopf bis zu den Knien reichte, und begann es zu kämmen. Ich war beeindruckt, trug die Deckerle ihr Haar sonst immer zu einem Knödel zusammengebunden unter dem Kopftuch. Diese Vorführung hatte für mich etwas von Spiritualität, vom Charakter einer heiligen Handlung. Es war dies ein Feenakt. Mirbe Nus Kupfl. Ich nehme das Rezept wieder wahr. Es liegt vor mir, genau unter meinen Augen.

Bei der Deckerle war es immer auf eine bestimmte Art aufregend. Ich empfand ihren Lebensraum wie eine zweite, eine geheimnisvolle Welt, ein kleines Universum, es war ein vertrauter und zugleich ein fremder Ort. In meiner Erinnerung sind die Einrichtungsgegenstände in ihrer klei-nen Zweizimmerparterrewohnung schemenhaft bis etwas deutlicher verankert. Im Schlafzimmer stand dieser Kübel, vor dem ich immer ein wenig Ekel empfand, und über ihrem schweren Bett hing ein großes, dunkles Gemälde, auf dem eine Auferstehungsszene dargestellt war.

Eine weiße Kredenz

Ich glaube, einen alten Schrank in diesem Zimmer zu sehen. Mit Sicherheit befand sich dort ein weißes Lavoir, in dem sie sich wusch. Die beiden Fenster schauten hinaus auf den Vorgarten meiner Eltern, in dem sie Blumen gepflanzt hatten. Die Fenster waren meist mit einem dicken Vorhang verdeckt, das Zimmer verdunkelnd. Das zweite, etwas kleinere Zimmer war gleichzeitig Wohnraum, Küche und Eingangsbereich. Die Einrichtung war ebenso spärlich: eine weiße Kredenz, in der sie ihr weniges Geschirr hortete, in den Laden das Besteck, unterhalb die Teller, Schüsseln und Töpfe, oben in den Seitenregalen mit den Glasfenstern das Mehl, Salz oder die Bröseln, einige Konserven, die Malzkaffeedose und so weiter. Von der Kredenz konnte man eine Ablagefläche ausziehen, die sie als Tisch nutzte. Auf den beiden Sesseln saßen wir Kinder. Gegenüber der Kredenz stand dieser große alte Herd, mit dem sie nicht nur das Essen bereitete, sondern auch ihre Wohnung heizte, und links, neben der Tür zum Schlafraum, stand eine weiße Ablage. Ein Diwan versteckte sich noch hinter der Kredenz, auf dem sie lange Zeit gemütlich mit erhöhten Beinchen halb liegend, halb sitzend die Zeitung studierte, während wir Kinder Powidltatschkerln oder Liwanzen verschlangen und Malzkaffee schlürften.

Aber es gab noch eine Besonderheit in diesem Raum, ein Detail, das mir bis heute so deutlich in Erinnerung geblieben ist, als wäre es gestern gewesen: In der Ecke rechts neben der Tür hing der Gekreuzigte. Darunter brannte eine Kerze im roten Behältnis. Links daneben, zwischen Herrgottswinkel und Eingangstür, hing an einem kleinen Nagel ein Kalender. Es war dies ein besonderer Kalender, der eine blasse Farbfotografie von Karel Gott zeigte, auf irgendeiner Bühne während irgendeines Konzerts irgendwo wahrscheinlich in der Tschechoslowakei, mit emotionsverzerrter Miene in sein Mikrofon singend. Sogar zwei Scheinwerfer vermeine ich noch in einem oberen Eck der Fotografie ausmachen zu können. Dieser Kalender hing also an ein und derselben Stelle tagein, tagaus, immer dasselbe Jahr, immer denselben Monat anzeigend. Daraus kann man schließen: Seitdem die Deckerle diesen Kalender dort an der Wand befestigt hatte und Karel Gott zum Vorschein gekommen war, blätterte sie bestimmt nie mehr auch nur einen Monat, eine Seite weiter. Gott, erfolgreicher Schlagersänger, hing da neben Jesus, gekreuzigter Vergeber aller Sünden, und die Zeit zwischen den beiden stand still.

Die Deckerle begleitete mich vom Tag meiner Geburt an bis, ja bis wohin eigentlich? Die Kindheitstage auf der Wiese in dem Garten vor ihrer Wohnungstüre waren glücklich. Der Garten war von mehreren Schuppen begrenzt, einer, in dem das Holz zum Heizen gelagert war, einer mit dem großen Öltank, der Werkzeugschuppen, und einer mit der Latrine. Zur Straße hin war meine kleine Welt von einer Garage und dem schmiedeeisernen Einfahrtstor abgegrenzt, durch dessen Zierlöcher in meiner Augenhöhe ich einen Blick nach draußen werfen konnte.

Stundenlang konnte ich, die Metallstäbe des Tores umfassend, dastehen und das wenige Treiben auf der schmalen Gasse beobachten. Das gegenüberliegende Geschäft des Fleischhackers bot mir immerhin mit seinen ein- und ausgehenden Kunden ein wenig Abwechslung.

Dann kam der Fernseher, ein Schwarz-Weiß-Gerät, in die Wohnung meiner Eltern. Ich sehe vage Bilder aus dem Vietnamkrieg vor mir, Hubschrauber, Panzer, Flüchtlingsströme, Kennwort: Kasperlpost, die Magirus-Deutz-Werbung, vermeine spät in der Nacht den Rumble in the Jungle, den Weltmeistertitelkampf zwischen Mohammad Ali und George Foreman, gesehen zu haben.

Ich erinnere mich jedoch noch ganz genau, mit der Deckerle an den Nachmittagen des Sommers 1974 die Spiele der Fußball-WM verfolgt zu haben, als Deutschland Weltmeister wurde. Die Deckerle freute sich dabei akkurat immer zum falschen Moment für die falsche Mannschaft. Ich weiß noch genau, dass ich mich, der neuen Errungenschaft in einer sturen Ernsthaftigkeit ergeben, darüber maßlos geärgert habe, weil sie nicht einsehen wollte, welche Mannschaft gerade eben anzufeuern war. Vielleicht konnte sie die Grautöne der Fußballdressen wirklich nicht auseinanderhalten, aber das schließe ich heute eher aus. Dazu hatte sie zu viel Schelmisches in ihrem Wesen.

Ich wurde älter, hatte Freunde

Als wir in meinem siebenten Lebensjahr nach Wien gezogen waren, kam ich nur noch an den Wochenenden zu Besuch nach Hause. Ich wurde älter, hatte Freunde, und die alte Frau wurde für mich zunehmend uninteressant. Bald kam ich nur noch zum Fußballspiel mit Freunden in den Garten mit der Wiese vor Deckerles Wohnung, in dem ich meine Kindheit verbrachte. Mehrmals ging dabei ein Fenster in ihrer Eingangstür zu Bruch. Einmal sogar in besonders strengen Wintertagen und noch dazu an einem Wochenende, sodass man ihr Fenster provisorisch mit Decken und Pappendeckeln gegen die Kälte abdichten musste. Ich schämte mich dafür.

Jahre später, an ihrem Grab, konnte ich nicht mehr weinen. Ich brachte keine natürliche Träne heraus. Ich erinnere mich noch genau, dass ich versuchte, mir krampfhaft eine Trauer anzueignen. Doch es wollte nicht gelingen. Ich verzog die Miene, aber ich konnte nicht weinen. So weit hatte ich mich von ihr entfernt, so fremd ist sie mir geworden. Wenn man jemandem ein Denkmal setzen will, muss man ihn erst zu Stein werden lassen.

Mirbe Nus Kupfl, lese ich jetzt wieder und fange an, wiege exakt ab, vermenge behutsam, knete den Teig, lasse ihn rasten, breite ihn aus, schneide Quadrate aus, belege diese mit einer Nussfülle und rolle die Quadrate ein zu Kipferln. Und schiebe sie ins Rohr. (Armin Baumgartner, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 16./17.01.2010)