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Sicherheitskräfte vor dem Eingang des Armeehauptquartiers in Ankara. Spezialeinheiten der Polizei durchsuchen die geheimen Archive.

Foto: AP/Ozbilici

Der Machtkampf zwischen der islamischen Regierung und dem Militär geht in die entscheidende Runde.

Seit Tagen wird nun schon das Hauptquartier der türkischen Streitkräfte von Staatsanwälten und Polizei durchsucht. Es ist das erste Mal in der Geschichte der türkischen Republik, dass Zivilisten in die geheimen Archive und Operationsräume des Militärs vordringen. Bei der Durchsuchung geht es vor allem um das sogenannte "Cosmic Oda", das ist der Raum, wo die Dokumente mit der höchsten Nato-Geheimhaltungsstufe "Cosmic" aufbewahrt werden. Anlass für die Durchsuchung sind angebliche Attentatspläne auf Vize-Regierungschef Bülent Arinc.

Der Journalist Cüneyt Ülsever von Hürriyet schrieb gestern, ein Freund aus den USA habe ihn angerufen und besorgt gefragt, was denn in der Türkei wieder los sei. Stell dir vor, schrieb Ülsever ihm, das FBI würde die geheimsten Räume des Pentagon auf den Kopf stellen, weil der Verdacht besteht, eine Gruppe innerhalb der Counter Strike Units hätte die Ermordung des Vize-Präsidenten geplant.

Was sich wie ein Hollywood-Szenario liest, ist tatsächlich aber die beste Beschreibung dessen, was in der Türkei im Moment passiert. Für Gülsever lässt die Situation nur einen Schluss zu: entweder die Staatsanwälte finden tatsächlich Papiere, Pläne etc., die den Verdacht erhärten. Dann muss der gesamte Generalstab zurücktreten. Oder aber es stellt sich heraus, dass aus der AKP ein Plot gegen die Militärführung inszeniert wurde, dann muss der Ministerpräsident Tayyip Erdogan zurücktreten.

Nicht lange stillhalten

Tatsächlich hält das politische Ankara und Istanbul seit Tagen die Luft an, in der bangen Erwartung, was nun passieren wird. Gerüchte, das Militär werde nicht mehr lange stillhalten, machten die Runde. Doch die Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates am Montag, während der sich die Spitzen des Militärs und der Regierung fünf Stunden lang gegenübersaßen, ging mit einer nichtssagenden Erklärung zu Ende. Seitdem schießen in Ankara die Vermutungen ins Kraut. Kommentatoren regierungsnaher Zeitungen glauben, dass in den Räumen, die von einem Staatsanwalt durchsucht werden, Beweise für Putschpläne und Dokumente über vorangegangene Putsche und Geheimoperationen gefunden wurden und das Militär deshalb zurücksteckt. Regierungskritiker vermuten dagegen, dass der angebliche Anschlagsplan auf Arinc nur ein Vorwand ist, um den Einfluss des Militärs endgültig zu brechen.

Sicher ist nur, dass hinter den Kulissen die entscheidende Runde im Kräftemessen zwischen der islamisch orientierten AKP-Regierung und der Militärspitze stattfindet. Dabei sitzt erstmals in der Geschichte der Republik eine zivile Regierung am längeren Hebel. Es gibt in der Gesellschaft keinerlei Rückendeckung für eine militärische Machtübernahme, und international wären Putschisten komplett isoliert. Das weiß auch die Militärführung und hält deshalb still.

Die Affäre macht jedoch wieder deutlich, dass die Türkei dringend ihre Institutionen modernisieren muss und eine neue Verfassung die Machtbalance neu definieren muss. Präsident Abdullah Gül hat deshalb angekündigt, im Jänner eine Versammlung einzuberufen, bei der die Spitzen der Justiz, der Regierung und des Parlaments darüber diskutieren sollen. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul/DER STANDARD, Printausgabe, 31.12.2009)