Wenn die anderen Lehrlinge Pause machen, beginnt die Arbeit für die angehenden Einzelhandelskaufleute: Sie kümmern sich bei Jugend am Werk in Wien-Floridsdorf um die Jause.

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Ausbildnerin und oft Familienersatz: Edith Kautek.

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Wien - Es ist Karin anzusehen, wie angestrengt sie nachdenkt. Sie muss ausrechnen, wie viel Brot man zehn Personen zum Heringsschmaus kredenzen soll. "Wie viel rechnest du denn pro Person?", fragt Edith Kautek. Karin runzelt die Stirn, vielleicht hat sie eine Idee, aber es fällt ihr schwer, sie zu artikulieren. Mit dem Begriff Jourgebäck, den die Ausbildnerin nun einwirft, kann sie schon gar nichts anfangen. In wenigen Monaten soll Karin ihre Lehrabschlussprüfung zur Einzelhandelskauffrau absolvieren. Frau Kautek seufzt, erklärt geduldig den schwierigen Begriff.

Seit zwölf Jahren macht sie das jetzt: junge Menschen ausbilden, die am echten Lehrlingsmarkt keine Chance hätten. Frau Kauteks Schützlinge haben oft keinen Hauptschulabschluss, kommen aus einem völlig zerrütteten Elternhaus oder sprechen kaum Deutsch. Die Organisation Jugend am Werk ist wahrscheinlich ihre letzte Chance, zu einer vernünftigen Ausbildung zu kommen.

Dort werden sie aufgefangen, so gut es eben geht, von Menschen wie Frau Kautek: "Ich mache sie zu Menschen, die sich in der Gesellschaft behaupten können." Pünktlichkeit, Umgangsformen, Konzentration - das alles muss die frühere Einzelhandels-Filialleiterin mit ihren Schützlingen mühsam erarbeiten, bevor es überhaupt an die Fachausbildung geht. "Sie kennen so etwas wie Pünktlichkeit oder Pflichtbewusstsein nicht." Weil sie es zu Hause nicht anders gesehen haben: "Oft ist der Jugendliche der einzige in der Familie, der arbeitet. Woher sollen sie es denn lernen?"

Fremde Lebensmittel

Gegenüber von Karin sitzt Jan. Er hat schon gewaltige Fortschritte gemacht, denn seit kurzem traut er sich, in Frau Kauteks Unterricht den Mund aufzumachen, obwohl er keine Ahnung hat, wie das Kürbiskernöl aussieht, riecht oder schmeckt, das er gerade fiktiv einem Kunden anpreisen soll. Dass er schon 20 Jahre alt ist, würde man nicht für möglich halten. Eine Folge der Magersucht und des Psychoterrors, den der Vater auf die Familie ausübt: Wenn dieser zu Hause ist, dürfen Jans Mutter, sein Bruder und er das Schlafzimmer nicht verlassen. Zehn Euro am Tag darf die Mutter ausgeben, um die gesamte Familie zu versorgen.

Jan hat Vertrauen gefasst zu Frau Kautek, die Geschichten, die er ihr erzählt, sind erschütternd. "Er kannte keinen Geburtstag und kein Weihnachten, als er zu uns kam", sagt Frau Kautek. "Die Lebensmittel, die im Unterricht besprochen werden, kennt er nur aus den Büchern." Die Ausbildnerin hat eine Sozialarbeiterin eingeschaltet, die Mutter verweigerte anfangs jegliche Unterstützung. Mittlerweile hat sie zumindest vor, ihren tyrannischen Ehemann zu verlassen, sobald der Bub die Lehre fertig hat.

Jans Schicksal geht Frau Kautek sichtlich nahe. Dennoch hat sie keinen Tag jenen lapidaren Satz bereut, den sie ihrer Betreuerin beim Arbeitsmarktservice zurief, als eine gutbezahlte Stelle als Filialleiterin eines Merkur-Marktes winkte. "Menschen helfen so wie Sie, das will ich eigentlich", sagte sie beim Abschied. Drei Tage später fand sie einen Brief vom AMS in ihrem Postkasten. Bei Jugend am Werk wurde eine Ausbildnerin für den Einzelhandelsbereich gesucht. Frau Kautek sagte zu, trotz deutlich weniger Gehalts. Heute ist die Mittfünfzigerin viel mehr als Ausbildnerin für ihre Schützlinge: "Ich weiß über ihren Liebeskummer Bescheid, über ihre finanziellen Sorgen, über ihre familiären Probleme, Missbrauch, Alkohol, Drogen. Ich bin Mutter, Vater, Bruder, Schwester, bester Freund, Finanzberater, Sozialarbeiter und Psychologe."

Frau Kautek agiert aus dem Bauch heraus, sagt sie. Oft ist sie nachsichtig mit ihren Schützlingen, souffliert die Antworten auf ihre eigenen Fragen, hilft mit Wörtern aus, wenn sie fehlen. "Wie erkennst du, ob eine Wassermelone schon reif ist?", will Frau Kautek von Ariana wissen. "Ich klopfe, dann gibt es einen Ton", sagt die junge Frau mit hörbarem Akzent. "Und welchen Ton?" Ariana hat ihn bestimmt im Ohr, ihr scheint aber das Wort dafür zu fehlen. Sie kam vor fünf Jahren aus dem Kosovo, sprach kein Wort Deutsch, war mit 18 zu alt für die Schule. Die Prüfungen für ihre Lehre absolvierte sie allesamt mit Sehr Gut - weil sie die Fragen und Antworten einfach auswendig lernte, Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Nun erarbeitet sie sich mühsam die Zusammenhänge.

Die Kosovarin Ariana ist schon verheiratet, darf aber weiterhin arbeiten - keine Selbstverständlichkeit, wie Frau Kautek weiß. Viele ihrer besten Lehrlinge sind einfach verschwunden: "Viele Türkinnen kommen nicht aus dem Urlaub zurück. Sie sind sehr fleißig, sehr sauber - und dann werden sie im Sommer irgendwo verheiratet." Dabei wollen sie so sein wie alle anderen: "Die Mädchen kommen in der Früh verschleiert, ziehen sich um, gehen den ganzen Tag bauchfrei, schminken sich, und am Abend verschleiern sie sich wieder."

Fremdenfeindlichkeit ist trotz Multikulti-Arbeitsalltags keine Ausnahme in der Lehrwerkstätte, viele junge Menschen mit ausländischen Wurzeln wählen die FPÖ. "Damit die anderen nicht mehr reinkommen", erklären sie dann Frau Kautek, die selbst in zweiter Ehe mit einem Türken verheiratet ist. Auch politische Bildung gehört für die Ausbildnerin zu ihrem Arbeitsalltag. "Ich sage ihnen nicht, was sie wählen sollen. Aber ich habe ihnen erzählt, dass die FPÖ gegen diese Lehrwerkstätte war."

Zukunftssorgen

Über ihre Zukunft denkt Frau Kautek nicht gern nach. Die Knie machen bald nicht mehr mit, in spätestens zwei Jahren muss sie wohl in Pension gehen. Was sie dann tun wird? "Oje, jetzt haben Sie mich daran erinnert", sagt sie und lächelt müde. Ein paar Jahre in die Türkei gehen mit ihrem Mann, das könnte sie sich gut vorstellen. Und irgendwann will sie alles niederschreiben, was sie bei "Jugend am Werk" erlebt hat. "Manche Kollegen meinen, man sollte nicht darüber reden, was hier vor sich geht, aus welchen Lebenslagen die Kinder kommen. Aber wie soll sich dann je etwas daran ändern?"

Die Erfolgsgeschichten geben Frau Kautek Kraft. "Manche meiner Lehrlinge, die jeder rausgeschmissen hätte, werden später Abteilungsleiter." Manche jungen Menschen muss sie aber ohne Erfolg gehen lassen. "Einmal habe ich einem ein Praktikum beim Cosmos vermittelt. Ein paar Tage später war die Polizei dort. Er hat Elektrowaren gestohlen und sie verkauft." Der Lehrling flog bei Jugend am Werk raus, Frau Kautek hat nie wieder etwas von ihm gehört.

Karin, Jan und Ariana sollen jetzt Zuckersorten aufzählen, immer reihum. Sie sind die letzten aus einer größeren Gruppe bei der integrativen Berufsausbildung, sie konnten bisher noch nicht an ein Unternehmen vermittelt werden. Für die Mädchen hat Frau Kautek bereits Jobs organisiert, Jan ist ihr Sorgenkind. Das Thema Lehrabschlussprüfung macht die Jugendlichen nervös, die Angst vor dem, was danach kommt, schwebt im Raum. "Dann landen wir auf der Straße", sagt Jan, es soll ein Scherz sein. Aber niemand lacht. (Andrea Heigl, DER STANDARD Printausgabe, 30.12.2009)