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In vielen rumänischen und bulgarischen Dörfern leben meist nur noch ältere oder alleinstehende Frauen.

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Viele Ehefrauen und Mütter verdienen als Erntearbeiterinnen oder in Dienstleistungsberufen im Ausland den Lebensunterhalt für ihre Familien.

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Obwohl sie erst vor einer Woche ihren 29. Geburtstag gefeiert hat, sieht Alina aus wie 40. Sie hat widerspenstiges Haar, abgeknabberte Fingernägel, und ihre geschwollenen Augen zucken ständig. Alina macht den Eindruck einer gejagten Frau. "Er muss doch nur aufpassen, dass die Mädchen sauber sind und satt, und dass sie ihre Hausaufgaben machen. Aber das ist immer noch zu viel für ihn", schimpft sie. "Es ist eben leichter herumzuhuren, zu trinken und zu zocken. Mit meinem Geld." Wenn Alina über ihren Mann spricht, dann ignoriert sie die schöne Aussicht von der sonnigen Terrasse eines Cafés in Deruta, einer ruhigen italienischen Stadt nahe Perugia.

Als Alina ihre Heimatstadt Gaesti in Rumänien 2006 verlassen hatte, um in Italien als Haushaltshilfe für eine ältere Frau im Rollstuhl zu arbeiten, blieb ihr Mann Cosmin (37) zu Hause, um auf die Kinder aufzupassen. Aber vor vier Tagen ist er verschwunden, mit dem ganzen Geld der Familie. Das hat ihr die halberwachsene Tochter gerade am Telefon gesagt.

Neue Alleinverdiener

Es ist ein neues Phänomen: Frauen aus den Balkanländern arbeiten im Westen, als Alleinverdiener im Haushalt. Es ist eine Umkehr der traditionellen Muster: Früher arbeiteten die Männer im Ausland, die Frauen blieben zu Hause.

Die UN-Abteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten (Undesa), die weltweit Migrationsbewegungen erfasst, hat festgestellt, dass es seit 1990 in neun Balkanstaaten mehr weibliche als männliche Emigranten gibt: in Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Rumänien und Serbien. Undesa-Reports zeigen, dass Frauen weltweit 49,6 Prozent der Migranten ausmachen - und 54 Prozent auf dem Balkan. Am ausgeprägtesten ist dieses Phänomen in Mazedonien und Bulgarien, wo Frauen 59 Prozent der Migranten stellen.

Die Männer arbeiteten einst in Kohleminen und Stahlwerken im Westen und schickten das Geld nach Hause. Doch das Verschwinden des Eisernen Vorhangs 1989 und die Kriege im ehemaligen Jugoslawien haben in den 90ern die weibliche Arbeitsmigration ausgelöst. Zudem ist Fabrikarbeit neuen Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor gewichen, für die bevorzugt Frauen gesucht werden.

Die Frauen vom Balkan arbeiten vor allem als Putzhilfen, Bedienungen in Cafés und Restaurants, Zimmermädchen und Pflegerinnen für Kranke und Alte. Laut einer Studie von Open Society Romania aus dem Jahr 2007 arbeiten knapp 255.000 Rumäninnen in Italien. 88 Prozent von ihnen waren mindestens einmal als Haushaltshilfen beschäftigt, viele illegal.

Grundlegender Wandel

Soziologen sagen, der neue Trend eröffne den Frauen zwar neue Perspektiven, sorge aber auch für zusätzliche Zwänge. Familien, in denen die Frauen nun die Alleinverdiener sind, müssten einen grundlegenden Wandel vollziehen. Dies stelle die traditionellen patriarchalischen Familienstrukturen auf dem Balkan vor unvorhergesehene Herausforderungen. "Migrantinnen als Ernährer sind für einen großen Teil der Familien auf dem Balkan schon die Realität", sagt der kroatische Soziologe Ivan Proliæ. "Diese Entwicklung wird noch zunehmen, sie krempelt traditionelle Familien um und verändert Landgemeinden drastisch."

Alina macht einen Job, den nicht viele Italiener annehmen würden - für einen Lohn, den Italiener als Beleidigung bezeichnen würden. Trotzdem schafft sie es, ihrer Familie jeden Monat 400 Euro zu schicken. Außer ihrem Gehalt hat Alina noch einen anderen Ansporn. Sie hofft, damit ihr Opfer wettmachen zu können: Die behinderte 77-Jährige, um die sie sich kümmert, hat versprochen, ihrer Helferin einmal das Haus zu vererben, in dem sie lebt. "Ich warte darauf, dass sie stirbt", gibt Alina unumwunden zu und raucht wieder eine Zigarette.

Sie mag ihre Arbeitgeberin nicht besonders, sie hält sie für rassistisch. Immigranten wie Alina müssen seit der Wirtschaftskrise mit zunehmender gesellschaftlicher Verachtung fertig werden, wie eine Studie der in Rom ansässigen Nichtregierungsorganisation Caritas Migrant belegt.

Immigrationsexperte Antonio Ricci meint, Italien sollte dankbar sein für seine mehr als 2,5 Millionen registrierten und schätzungsweise 700.000 illegalen Zuwanderer. In einer älter werdenden Gesellschaft mit niedriger Geburtenrate füllten privat angeworbene Hilfskräfte aus Osteuropa, die sich um Kranke und Alte kümmerten, die Lücken eines ineffizienten staatlichen Wohlfahrtssystems. Deshalb wurden auch Haushaltshilfen von den strengeren Regelungen gegen Einwanderung ausgenommen, die die italienische Regierung im Vorjahr erlassen hat.

Neda Plesa aus Boboljusci in Bosnien ist eine stimmgewaltige, geistreiche Frau Ende 30. Weil sie fast immer lächelt, kann man sich kaum vorstellen, dass sie traurig ist. Dennoch sagt sie, sie habe an einer ernsten Depression gelitten, bevor sie im Ausland Arbeit gefunden habe. Wie ein paar hundert andere Frauen aus Bosniens Nordwesten hat Neda ein neues Berufsleben in Nordösterreich begonnen. Seit 2004 arbeitet sie auf einem Bauernhof bei Linz. "Mein Job ist ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration", scherzt sie.

"Typisches Machogehabe"

Aber immer noch sieht sie ihre Arbeit als Flucht aus einem Leben, das sie mit Gefangenschaft vergleicht. "Mein Exmann war der Meinung, eine Frau solle nicht arbeiten und ein Mann die Familie versorgen, typisches bosnisches Machogehabe." Wenn Neda Geld brauchte, musste sie ihrem Mann genau erklären, wofür. "Das nennt man ökonomische Gewalt und hat letztlich meine Selbstachtung zerstört." Dank ihres Jobs in Österreich ist sie einigermaßen wohlhabend, geschieden, und hat ihre Leidenschaft fürs Rucksackreisen entdeckt.

Die Wanderung gen Westen hat manche Dörfer und kleinere Städte fast all ihrer Frauen im arbeitsfähigen Alter beraubt. Wer wissen will, wie eine Welt ohne Frauen aussehen würde, sollte Varshets besuchen, eine Stadt in Bulgariens Bergen. Sie ist berühmt für ihre Mineralquellen - und nun auch dafür, dass ihre etwa 5000 Einwohner größtenteils arbeitslose Ehemänner und mutterlose Kinder sind. Die Frauen arbeiten in Italien und Spanien.

Die Bor-Cvor-Snackbar an der Hauptstraße ist voll mit Männern, die lachen und sich an einfachen Tischen mit rot-weiß-karierten Tischtüchern unterhalten. Allen Vorurteilen gegen rein männliche Gemeinschaften zum Trotz wirkt Varshets friedlich, ordentlich und freundlich. Die Männer, die jeden Tag in der Bar herumhängen, unterstützen sich gegenseitig, während sie darauf warten, dass ihre Frauen auf Urlaub kommen. Peter Dimov (45), ein Bauarbeiter mit warmem Lächeln, hat seine Frau seit einem Jahr nicht gesehen. Er gibt zu, dass er geweint hat, als sein Sohn kürzlich fragte, welche Farbe die Augen seiner Mutter hätten, weil er sich daran nicht erinnern konnte. Peter ist sogar bereit, vor den anderen Männern im Lokal über seine Einsamkeit und Sehnsüchte zu sprechen.

Die Männer aus Varshets haben Kochen gelernt und helfen ihren Töchtern durch die Pubertät. "Ich habe nie geschätzt, was meine Frau für die Kinder und im Haushalt getan hat, bis ich meinen Job verloren habe und sie zum Arbeiten nach Italien ging", gibt Peter zu. "Nun, da ich meine Buben großziehe, merke ich, wie hart es ist, Hausfrau zu sein. Bauarbeit ist ein Zuckerschlecken im Vergleich dazu", sagt er. Andere nicken zustimmend.

Doch die Migrantinnen zahlen oft einen hohen Preis für den höheren Lebensstandard. Viele leiden an Depressionen und haben Probleme, sich der neuen Situation anzupassen. Das gilt auch für die Kinder. In Rumänien gibt es ein neues, entsetzliches Phänomen: Selbstmorde von Kindern, deren Mütter ins Ausland gegangen sind. 2008 hatten laut einer Studie von Unicef und der Social Alternatives Association fast 350.000 rumänische Kinder mindestens einen Elternteil, der im Ausland arbeitete, 126.000 von ihnen standen sogar ganz ohne Eltern da. 2006 und 2007 haben sich mindestens 19 Kinder umgebracht. Viele, das zeigen die Abschiedsbriefe, weil sie sich von den Eltern zurückgewiesen und verlassen fühlten. Nicht nur für die Frauen kann sich der Traum von einem neuen Leben in einen Albtraum verwandeln, auch für ihre Familien. (Maja Hrgoviæ/DER STANDARD-Printausgabe, 29.12.2009, Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Klaiber)