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Auch Hollywood hilft der boomenden Londoner Theaterszene: Filmstar Jude Law etwa gab den Hamlet.

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In England geht ein starkes Theaterjahr zu Ende; allein in London wurden heuer mehr als 14 Millionen Tickets verkauft. Zum Vergleich: Alle österreichischen Bühnen zusammen kommen pro Jahr auf etwa sechs Millionen. Richard Pulford, Direktor der Gesellschaft Londoner Theater, rechnet 2009 mit einem Besucherplus von vier Prozent. Ein Großteil der Umsätze werde im West End zwar unverändert mit teueren Musicaltickets erwirtschaftet, der Zuwachs geht laut Pulford praktisch nur auf das Konto des Sprechtheaters.

Während die Engländer bei Restaurant- oder Friseurbesuchen sparen, geht die Finanzkrise an den Bühnen spurlos vorüber. Es sei denn, sie ist selbst Thema wie in den Erfolgsstücken Enron von Lucy Prebble oder The Power of Yes von David Hare. Es kommen mehr Menschen, die früher nicht ins Theater gingen. Pulford vermutet, dass Reality-Formate im Fernsehen die Lust am Liveerlebnis anfachen. Als Hauptgrund für die gegenwärtige Blüte gilt aber die Qualität der Stücke: Ausbildungen im Stückeschreiben boomen. Unzählige Autoren versuchen ihr Glück. Die englischen Bühnen schöpfen aus dem Vollen. Rund 3000 unverlangte Manuskripte langen beim National Theatre jährlich ein. Selbst am kleinen Bush Theatre sind es um die tausend. Das Burgtheater erhält in einer Saison gerade mal vierzig unbestellte Texte.

Mehr Stücke denn je werden, nachdem sie an den staatlichen Bühnen ausgelaufen sind, im West End wieder aufgenommen. Das National Theatre oder das Royal Court betreiben die kommerzielle Verwertung zunehmend selbst, statt sie privaten Produzenten wie Mark Rubinstein zu überlassen. Der sieht das aber sportlich. Der subventionierte Sektor komme dem privaten Theater durchaus zugute.

Rubinstein verweist auf die Ausbildung der Schauspieler und die Etablierung von Stücken, die ein größeres Publikum finden. Öffentliche Förderung wünscht er sich nicht für private Produktionen; wohl aber für die Modernisierung der Spielstätten und um Schüler und sozial Benachteiligte, die sich die Tickets im West End nicht leisten können, zu unterstützen.

Hilfe vermögender Leute

Unter zehn kommerziellen Produktionen mache gerade mal eine Profit, zwei tragen sich und sieben spielen die Kosten nicht ein, sagt Richard Pulford. Das geht auf Dauer nur dank "Engeln", vermögende Leute, die das Risiko tragen. Nur wer solche Kontakte hat, kann als Produzent im West End bestehen. Dass Theatertickets gefragt sind, dürfte auch am immer ausgefeilteren Marketing liegen. An der Stelle steigen die Kosten besonders, sagt Mark Rubinstein. Am zuverlässigsten für Schlagzeilen sorgen immer noch Auftritte von Kinostars, auch wenn sie von den Kritikern gerne aufs Korn genommen werden. Jude Law hat im Sommer Hamlet interpretiert. In Molières Menschenfeind, den der auch regelmäßig bei den Wiener Festwochen inszenierende Martin Crimp in die Gegenwart übertragen hat, verkörpert Keira Knightley, nun ja, einen Filmstar. Und Gwyneth Paltrow wird demnächst eine von Tschechows Drei Schwestern spielen.

Langsam entgleisende Party

Als Autorenbühne für neue Stücke hat sich das Royal Court etabliert. In den Neunzigern haben der junge Mark Ravenhill und Sarah Kane dort den "In-Yer-Face" -Stil geprägt. Heute wird weniger auf Schockeffekte gesetzt als auf Lacher, die im Hals stecken bleiben - wie in Michael Wynnes Priory: Auf einer langsam entgleisenden Silvesterparty ist keiner der Thirtysomethings auch nur entfernt so glücklich, wie er oder sie vorgibt. Ein Pointenfeuerwerk brennt herunter, das dem nachdenklichen Schluss aber die Luft raubt.

Doppelbödiger nimmt sich Alan Bennett in The Habit of Art drei Heiligtümer der englischen Hochkultur zur Brust: Den Dichter W.H. Auden, den Komponisten Benjamin Britten und das National Theatre selbst. Es ist ein Stück im Stück, die erste Probe einer fiktiven Begegnung zwischen Auden und Benjamin (viele Jahre nach ihrer Arbeits- und Liebesbeziehung). Mit dabei ein Journalist, der Biografien der beiden schrieb, und ein Strichjunge, der stellvertretend für ungenannte Musen einen Platz in der Kulturgeschichte einfordert.

Das beklemmendste Stück ist ebenfalls am National Theatre zu sehen. Tadeusz Slobodzianeks Our Class zeichnet die Lebensgeschichten von fünf Juden und fünf Polen nach. Von ihren gemeinsamen Tagen als Taferlklassler über den Kriegstag, als die Polen ihre früheren Mitschüler mit allen Juden der Stadt in eine Scheune treiben und abfackeln, bis weitere sechzig Jahre später schließlich der letzte aus der Klasse stirbt.

Im Chor rezitierte Kinderreime pointieren die dreistündige Inszenierung, die mit ein paar Stühlen auskommt. Im ostpolnischen Jedwabne wurde das Massaker an 1600 Juden (1941) bis vor einigen Jahren den deutschen Besatzern in die Schuhe geschoben. Viele Bewohner und einige hochrangige Politiker beharren bis heute darauf. Keine der zehn Figuren des Stücks ist eindimensional angelegt. Doch in Polen gilt es als unaufführbar. Statt sich zu beklagen, hat Slobodzianek einen Tausch eingefädelt. Er brachte sein Stück nach England und holte sich von dort die Grundlagen, um Polens erste Ausbildung zum Stückeschreiber auf die Beine zu stellen. Mit Mark Ravenhill als Gastdozent. (Stefan Löffler aus London, DER STANDARD/Printausgabe,