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Das Christkind betritt die Eiserne Zeit. Die Kellnerin, die gerade noch eine Arie gesungen hat, verstummt. Die Kartenspieler hören auf, Karten zu spielen. Ein betrunkener Schlosser lässt sein Glas fallen. Es wird still. Das Christkind stellt sich an die Theke und bestellt Rum.

 

 

Foto: AP / Markus Schreiber

Thomas Glavinic, geb. 1972 in Graz, ist Schriftsteller und lebt in Wien. Sein Debütroman Carl Haffners Liebe zum Unentschieden erschien 1992. Zuletzt erschienen von ihm Das bin doch ich (2007) und Das Leben der Wünsche (2009).

Foto: Schöndorfer

Von Thomas Glavinic

Das Christkind geht durch die Wiener Margaretenstraße. Es hat einen Vollbart und wirres langes Haar. Es trägt einen abgerissenen Parka, dessen Deutschlandfahnenetikett mit Filzstift durchgestrichen ist. Hose und Stiefel des Christkinds sind schmutzig. In den Händen gelbe Einkaufstaschen, stapft es durch den Schnee, zwischen den Zähnen qualmt eine Zigarette, auf drei Meter riecht man den Rum, den das Christkind in der vergangenen halben Stunde in der Goldenen Kugel getrunken hat.

"Servus, Peda" , ruft ein Mann von der anderen Straßenseite. Es ist Herbert, der Koch des Restaurants an der Ecke der Straße, in der das Christkind wohnt.

"Servus, Ari" , nuschelt das Christkind. Es spuckt die Zigarette in den Schnee und versucht zu winken, aber mit der schweren Tüte kann es den Arm nicht heben.

Das Christkind geht weiter. Eine alte Frau ist mit ihrem Pudel unterwegs. Der Pudel verrichtet sein Geschäft auf dem Gehsteig. Ein Mann kommt herbei und zwingt die alte Frau, die Hundewurst aufzuheben. Das Christkind schüttelt den Kopf, spuckt aus.

"Die alten Weiber" , sagt der Mann.

Das Christkind nickt.

"Niemand sollte einen Hund haben, den er nicht bändigen kann" , sagt der Mann. "Der Hund ist zu stark für die alte Frau."

Es beginnt zu schneien. Das Christkind bleibt stehen. Es sieht sich um. Nachdem es sich überzeugt hat, von niemandem beobachtet zu werden, stellt es die Taschen in den Hauseingang daneben und versucht, die Fassade des Kinos emporzuklettern. Es gleitet ab und schürft sich den Handrücken auf. Das Christkind lacht. Als sich der 59A nähert, nimmt es die Taschen wieder auf und geht weiter. Es murmelt vor sich hin. Ab und zu ruft es etwas, ich verstehe es nicht.

Das Christkind wankt

Der Wind wird stärker. Die Haare des Christkinds sind zu fettig, um zerzaust zu werden. Das Christkind bleibt vor dem Sonnenstudio stehen und betrachtet die Fußpilzwerbung in der Auslage. Eine Schülergruppe kommt vorbei, sie schreien und stoßen. Ein Halbwüchsiger sieht den Ausdruck auf dem Gesicht des Christkinds und prallt zurück. Auch die anderen erschrecken. Erst in einiger Ent-fernung wagen sie wieder zu sprechen. Das Christkind stapft weiter.

Es schneit stärker. Vor dem Holiday Inn bleibt das Christkind erneut stehen. Wie festgefroren steht es da, fünf Minuten, zehn Minuten. Dann, ohne äußeren Anlass, geht es weiter. Es begegnet der alten Frau mit dem Pudel. Die Frau weicht dem Christkind aus. Eine Frau mit Kinderwagen wechselt die Straßenseite. Ein Parksheriff glotzt das Christkind an und lacht unsicher.

Das Christkind besucht den afghanischen Schuster. Der Schuster schenkt dem Christkind einen Schnaps ein. Sie reden nicht viel. Der Schuster macht ein paar Witze. Er erzählt von Amerika. Das Christkind reibt sich die steifgefrorenen Hände. Zum Schluss bittet es um einen Euro. Der Schuster gibt ihm fünf. Das Christkind bedankt sich und geht weiter. Im Laden bleibt sein Geruch zurück.

Das Christkind wankt durch die Kettenbrückengasse. Ein junger Mann steht in der Tür des Sling und winkt. Das Christkind versucht zu winken, kann den Arm nicht heben, begnügt sich mit einem Kopfnicken.

"Was geht, Peda?, ruft der Mann. "Alles gut!" , ruft das Christkind. "Brauchst was, Peda?" , ruft der Mann. "Dank dir!" , ruft das Christkind über die Schulter zurück. "Sicher nicht?" , ruft der Mann. "Dank dir schön!" , ruft das Christkind.

An der Kreuzung zur Schönbrunner Straße hält ein Krankenwagen. Ein Radfahrer ist mit einem Auto zusammengestoßen. Er wird mit einer Beinverletzung in den Krankenwagen gehoben. Der Autofahrer steht daneben, er macht sich mit zitternden Händen Notizen, es sieht so aus, als schreibe er sinn-lose Zeichen. Das Christkind stellt die Taschen ab, zündet sich eine neue Zigarette an, legt den Kopf schief und sieht zu.

"Gehen Sie weg da" , sagt der Sanitäter und schließt die Tür.

"Ich bin schon weg" , sagt das Christkind.

"Gehen Sie weg, was tun Sie da?" , ruft der Autofahrer.

Das Christkind mustert ihn. Der Autofahrer, der das Christkind zuvor nicht angesehen hat, macht zwei Schritte zurück.

"Was schreiben Sie?" , fragt das Christkind. "Nichts" , sagt der Mann. "Ich will das sehen" , sagt das Christkind. Der Mann flüchtet sich in sein Auto und drückt die Zentralverriegelung. Das Christkind klopft gegen die Scheibe. Der Mann starrt geradeaus. Das Christkind klopft, der Mann starrt. Der Sanitäter ruft etwas aus dem Rettungswagen. Das Christkind nickt ihm zu und geht weiter.

Das Christkind kauft Smart

Das Christkind kauft sich in der Trafik eine Schachtel Smart. Das Wechselgeld legt ihm die Verkäuferin hin, ohne ihn anzusehen. Herr Chandihok vom Indian Pavillon, der eine Zeitung kaufen will, grüßt das Christkind herzlich und hält ihm die Tür auf, das Christkind sagt Danke.

Das Christkind kommt zum Naschmarkt. Langsam bahnt es sich einen Weg. Viele Menschen weichen ihm aus. Einer rempelt ihn an, entschuldigt sich, im nächsten Moment bleibt eine Frau mit einem Regenschirm im Schal des Mannes hängen. Die beiden beginnen zu streiten. Naschmarkt-Edi biegt mit seiner Puppe in eine Seitengasse. Ein Junge wirft mit einem Schneeball nach seiner Schwester. In der Nähe heult eine Polizeisirene auf, einige Leute drehen die Köpfe.

Einer alten Frau fällt ein Blumenstrauß aus der Hand. Das Christkind stellt seine Taschen ab und hebt den Strauß auf. Die Frau bedankt sich. Das Christkind lächelt. Die Frau lächelt. Dr. Falafel lädt die Frau auf ein Falafel ein. Verwirrt nickt sie erst, dann sagt sie, sie muss jemanden abholen, und läuft davon.

Das Christkind bestellt ein Falafel. Dr. Falafel lässt sich nicht bezahlen. Das Christkind isst sein Falafel und trinkt eine Dose Budweiser. Die Leute ringsum sprechen nicht mehr laut, auch die Händler preisen nicht in gewohnter Lautstärke ihre Waren an. Das Christkind bedankt sich, nimmt seine Einkaufstaschen und geht weiter.

Immer dichter fallen die Flocken. Einige Marktstände schließen. Das Christkind kauft einem Augustin-Verkäuferin eine Zeitung ab. Ein Junge sieht das Christkind und beginnt zu weinen. Er wird von seiner Mutter weitergezogen, sie entschuldigt sich knapp.

Das Christkind geht zum Blumengeschäft. Die Verkäuferin ignoriert es. Das Christkind geht auf die öffentliche Toilette. Ein asiatischer Koch verlässt sie, ohne sich die Hände zu waschen. Vor der Toilette steht eine schöne junge Frau, die auf ihren Freund wartet. Sie lächelt dem Christkind zu. Das Christkind sucht umständlich in seinen Taschen, schließlich bietet es der jungen Frau ein schmieriges grünes Plastikkleeblatt an. Die junge Frau schüttelt lächelnd den Kopf. Das Christkind zieht einen imaginären Hut.

Das Christkind betritt die Eiserne Zeit. Die Kellnerin, die gerade noch eine Arie gesungen hat, verstummt. Die Kartenspieler hören auf, Karten zu spielen. Ein betrunkener Schlosser lässt sein Glas fallen. Es wird still. Das Christkind stellt sich an die Theke und bestellt Rum.

"Servus, Peda" , sagt die Kellnerin.

Das Christkind nickt und lächelt. Die zwei Zecher neben ihm rücken ein Stück ab. Die Kellnerin stellt dem Christkind ein Glas und eine Flasche Rum hin. Das Christkind füllt das Glas, trinkt es aus, füllt es wieder, trinkt es leer. Das Christkind bezahlt.

"Servus, Peda" , sagt die Kellnerin.

Das Christkind nimmt seine Taschen und tritt auf die Straße. Vom Himmel fallen große, dicke Flocken. Leise und langsam fahren die Autos über die Schneefahrbahn auf der Wienzeile. Alles scheint einzuschlafen.

Das Christkind stellt sich auf die Kreuzung zwischen der Wienzeile und der Schleifmühlgasse. Es stellt die Einkaufstaschen ab und steht da. Die Autos halten. Eines hupt, bald ein zweites.

Das Christkind beginnt am Kopf zu brennen. Erst züngeln die Flamme aus seiner Schädeldecke, dann greift das Feuer auf das Gesicht über. Bald steht die ganze Gestalt in Flammen. Man hört nichts, keinen Schrei, ab und zu knattert das Fett. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24./25./26./27.12.2009)