"Wir leben in einer großartigen Zeit für Journalismus", sagt Jeff Jarvis und wirft ganze Teile der "New York Times" ungelesen in den Müll. Lieber kauft der New Yorker Journalismusprofessor, Unternehmensberater, Buchautor ("Was würde Google tun?") und Blogger Google-Aktien und fordert ein radikales Umdenken bei den Geschäftsmodellen und Arbeitsweisen von Journalisten. Im Interview mit derStandard.at spricht er über Verleger, die ein "kindisches, dummes und selbstmörderisches" Verhalten an den Tag legen, "grundfalsche und lächerliche" Aussagen tätigen und sich besser auf ihre Stärken konzentrieren sollten. Auf die Fragen von Michael Kremmel antwortet Jarvis, warum Kleiderbügel ein Geschäftsmodell für Nachrichten sein können und wie er "Bild"-Chefredakteur Kai Diekmann zum Videobloggen brachte.
derStandard.at: In Ihrem Buch "Was würde Google tun" empfehlen Sie, unser Denken zu ändern und so zu denken wie Google, um im Netz erfolgreich zu sein. Was bedeutet das für die Medienunternehmen von heute?
Jeff Jarvis: Google schafft es wie kein anderes Unternehmen mit den fundamentalen Veränderungen in der Funktionsweise der Wirtschaft und der Medien umzugehen. Die Inhaltsindustrie, die seit Gutenberg existierte, wandelt sich zur Online- und Linkökonomie. Wir sind es gewohnt, von allen Inhalten eine Kopie zu machen und diese zu verkaufen, nun aber brauchen wir nur noch eine einzige Kopie und können darauf verlinken, um einen Wert zu schaffen. Das ist viel effizienter. Das zu tun, was alle anderen tun, zahlt sich nicht mehr aus. Online muss man sich spezialisieren.
derStandard.at: Was sind die größten Herausforderungen für die Medienunternehmen?
Jarvis: Die Sache ist die: Es ist sehr schwierig für ein großes Unternehmen, sich zu verkleinern und sich zu spezialisieren. Für Neugründungen aber ist es ein Leichtes, als kleine Unternehmen erfolgreich zu sein. Die Frage ist, ob der Großteil der zukünftigen Entwicklung in der Medienbranche von den bestehenden Institutionen ausgeht, oder von neuen Unternehmern. Ich sage, die Zukunft geht von neuen Unternehmen aus.
derStandard.at: Wie könnte so eine Medienwelt aussehen?
Jarvis: An der Universität, an der ich lehre, haben wir uns gefragt, was passiert wenn eine Stadt keine Zeitungen mehr hat. Natürlich versuche ich, keine Zeitungen zu zerstören, aber das ganze ist ein Szenario für den Ernstfall. Jedenfalls zeichnet es sich ab, dass die Zeitung nicht durch eine bessere Zeitung ersetzt wird, sondern es entwickelt sich ein Ökosystem mit vielen neuen Mitspielern, die alle unterschiedliche Motive, Wege und Geschäftsmodelle haben. Kein Unternehmen wird mehr so groß sein, wie es die Zeitung vorher war, es wird auch kein Monopol mehr geben. Die Unternehmen werden viel kleiner, aber auch viel effizienter und somit auch profitabel sein. Man kann sich hunderte Blogger vorstellen und ein Medienunternehmen, das mit den Bloggern zusammenarbeitet. So etwas wie Druckereien und Vertrieb sind hingegen kein Teil unseres Modells.
derStandard.at: Das Zeitungssterben wird oft mit dem Untergang des Journalismus gleichgesetzt. Glauben Sie an ein Ende des Journalismus?
Jarvis: Überhaupt nicht. Ich unterrichte Journalismus und glaube an die große Zukunft des Journalismus, ansonsten dürfte ich nicht unterrichten. Es gibt unglaublich viele Möglichkeiten, um mit der Öffentlichkeit zusammenzuarbeiten. Wir können Algorithmen, Software und neue Geräte und Technologien nutzen, um ein neues Verhältnis zur Öffentlichkeit aufzubauen und um effizienter und zielgerichteter zu sein. Es geht darum, Nischenmärkte zu bedienen, statt die Massenware Nachricht zu liefern.
derStandard.at: Wie aber sehen die Geschäftsmodelle dieser neuen Unternehmen aus?
Jarvis: Bei einer Marktgröße von Boston, mit etwa 5 Millionen Menschen, hat eine Zeitung derzeit Erträge von rund vierhundert Millionen Dollar. Bei unserem System würde ein Medienunternehmen 45 Millionen Dollar erwirtschaften. 250 vollzeitäquivalente Arbeitsplätze würden entstehen, die einem Newsroom, so wie er heute existiert, von etwa 300 Personen entsprechen würde. Dabei wäre alles profitabel, und zwar finanziert durch Werbung und andere Geschäftsmodelle.
derStandard.at: Was sind das für andere Modelle?
Jarvis: Auf lokaler Ebene kann man viele lokale Werbekunden mit einbeziehen, die es sich niemals leisten könnten, in Zeitungen zu werben, da diese zu teuer, zu unspezifisch und uneffizient sind. Eine weitere Einnahmequelle ist der direkte Verkauf: Der "Telegraph" in London ist der größte Verkäufer von Kleiderbügeln in Großbritannien. Sie verkaufen aber auch Hüte und Wein, und die direkten Verkäufe machten vergangenes Jahr ein Viertel ihrer Einnahmen aus. Wir reden hier aber immer von den Einkommensmöglichkeiten, auf der anderen Seite kann man online viel effizienter sein, und damit als kleines Unternehmen auch profitabel.
derStandard.at: Heißt das, Verleger müssen ihr gesamtes Geschäftsmodell überdenken und das Unternehmen neu organisieren?
Jarvis: Ja, absolut. Es ist nun fünfzehn Jahre her, seit der der erste kommerzielle Browser veröffentlicht wurde. Somit hatten die Verleger eineinhalb Jahrzehnte Zeit, sich darauf einzustellen, die meisten haben aber versucht ihre Vergangenheit zu schützen, anstatt eine Strategie für die Zukunft zu entwickeln. Sie können sich sicher sein, dass irgendwo ein Jugendlicher in einer Schule oder Universität sitzt, der die Gelegenheit wahrnimmt, das Web und seine Plattformen so zu nutzen, um effizient und billig mit ihnen in Konkurrenz zu treten. Es gibt hier große Möglichkeiten. Man ist dann vielleicht nicht so groß wie der Konkurrent, aber man kann dort profitabel sein, wo es der Konkurrent nicht ist.
derStandard.at: Verstehen Sie die Position der Verleger, die Google beschuldigen, mit deren Inhalten Geld zu verdienen?
Jarvis: Verlage dürfen sich nicht beschweren. Google macht genau das Gegenteil, es liefert den Seiten der Verleger ein Publikum. Wenn man Google beschuldigt, für die Probleme der Verleger verantwortlich zu sein, dann ist das kindisch, dumm und selbstmörderisch. Es liegt an einem selbst, zu den Benutzern eine Beziehung aufzubauen und daraus Kapital zu schlagen. Und wenn Verleger sagen, die Benutzer, die einem Google bringt, wären wertlos, dann ist das grundfalsch und lächerlich und zeigt nur, dass diese Verleger keinen Wert aus diesen Benutzern generieren können.
derStandard.at: Sie sagen, dass die Massenmärkte gestorben sind und nun die Masse an Nischenmärkten entscheidend ist. Was bedeutet das für die allgemeinen Tagesnachrichten?
Jarvis: Der einzige Grund, warum wir bisher alle die gleichen Nachrichten konsumiert haben, war, weil es Print und Rundfunk verlangt haben. Online kann man die Nachrichten den eigenen Bedürfnissen anpassen. Aber natürlich wird es Nachrichten geben, die wir alle lesen werden. Aber die Idee, dass uns eine Zeitung alle gleich bedient ist absurd. Es ist unglaublich ineffizient. Wenn ich die "New York Times" bekomme, werfe ich den Sportteil weg, dieses Geld haben sie an mich verschwendet. Aber nicht nur die Times, sondern auch die Werbekunden.
derStandard.at: Hat die zunehmende Wichtigkeit der Nischenmärkte und die ständige Individualisierung nicht ein Nischendenken und immer größere Separation zur Folge?
Jarvis: Ich glaube nicht. Durch mein Blog, Facebook und Twitter kenne ich mehr Menschen als je zuvor. Ich habe mehr Möglichkeiten Neuigkeiten zu entdecken und ich richte meine Aufmerksamkeit immer noch auf die großen Geschichten. Wir alle tun das, weil sie wichtig sind. Das Argument, auf weniger gute Storys zu stoßen, zieht nicht. Online werden Empfehlungen nicht weitergereicht, wenn andere Menschen damit nicht einverstanden sind. Finden aber mehrere Menschen eine Geschichte gut, breiten sich die Empfehlungen aus wie ein Buschbrand.
derStandard.at: Twitter und Facebook funktionieren beim Nachrichtenaustausch vor allem deshalb, weil man sich selbst einen sozialen Filter schafft. Ist hier nicht die Gefahr, immer selbst bestätigt zu werden und somit selbstreferenziell zu sein, sodass man andere Positionen nicht mehr wahrnimmt?
Jarvis: Nein. Ich mag keinen Sport, also lese ich keine Sportnachrichten. Warum sollte das selbstreferenziell sein? Bei Twitter ist das bemerkenswerte, dass sich Nachrichten über die Grenzen von Gruppen verbreiten. Mein Deutsch ist schlecht, aber ich verstehe es bei der Kürze von 140 Zeichen so gut, dass ich einen Tweet übersetzen kann. So kann ich anderssprachigen Menschen zugänglich machen, was ein Freund von mir in Deutschland schreibt. Das war früher nicht möglich, da musste man warten, bis eine langsame, behäbige Struktur eines Nachrichtenunternehmens die Botschaft vielleicht weitergab, heute funktioniert das von Mensch zu Mensch.
derStandard.at: Was bedeutet dieser Medienwandel für die Journalisten?
Jarvis: Der Grund, warum ich Unternehmertum für Journalisten unterrichte, ist, dass ich glaube, dass wir zu lange das Geschäft hinter dem Journalismus ignoriert haben. Heute müssen wir das Geschäft mit dem Journalismus verstehen und Verantwortung dafür wahrnehmen. Journalisten müssen lernen, in neue Beziehungen mit der Öffentlichkeit zu treten, mehr mit ihr zusammen zu arbeiten. Journalisten müssen also multimedial veranlagt sein, sie müssen offener sein und mehr zusammenarbeiten. Und sie müssen die Dynamik des Geschäfts verstehen. Viele müssen selbst Unternehmer werden und ihre eigenen Geschäfte betreiben.
derStandard.at: Brauchen Journalisten auch mehr technisches Wissen?
Jarvis: Sicher, aber die gute Nachricht ist, dass diese Sachen immer einfacher zu lernen sind. Ein gutes Beispiel ist die Flip-Kamera, eine handliche und vor allem billige Kamera. Ich habe sie Kai Diekmann, dem Chefredakteur der "Bild" gezeigt, und es ist meine Schuld, dass er damit bloggte. Das Interessante ist, dass Diekmann anders darüber dachte als es amerikanische Journalisten taten. In den USA dachten die Leute daran, ihre Redaktionen mit diesen billigen Kameras auszurüsten. Diekmann aber sah die Kamera an und sagte: "Damit werde ich ganz Deutschland ausrüsten." Und er verkaufte 20.000 Kameras in vier Wochen. Er bedachte den Zusammenarbeitsfaktor, sodass die Leute mit ihm Material für die "Bild" liefern. Das zeigt, Technologie stellt heute kein Hindernis mehr dar. Wo man früher eine Druckerpresse und einen Fernsehturm brauchte, ist heute nur mehr ein Internetzugang nötig.
derstandard.at: Sie beschwören eine neue Form des Journalismus, der dem Internet besser gerecht wird, den Prozessjournalismus. Was ändert sich dadurch?
Jarvis: Wir brauchen uns nur anschauen, wie sich eine Geschichte online entwickelt, wenn fortlaufend etwas passiert. Zum Beispiel die Wahlen im Iran. Die Leute waren ständig am überprüfen, ob etwas Neues passiert. Die Geschichte hat sich in Echtzeit entwickelt, Fehler wurden gemacht und gleich wieder ausgebessert, neue Perspektiven eröffneten sich. Online waren diese Nachrichten ein Biest, das sich nach und nach entwickelte. Aber das sind Nachrichten nun mal, ein fortwährender Prozess. Wir haben Nachrichten nur deshalb in ein fertiges Produkt verwandelt, weil wir es mussten. Weil wir den Redaktionsschluss beachten mussten. Mit den neuen Entwicklungen haben wir die Möglichkeit, den sich entwickelnden Prozess auch als solchen darzustellen. Denn die Story geht weiter.
derStandard.at: Ist es möglich, diese Form der fortwährenden Berichterstattung durchzuziehen?
Jarvis: Wir sehen bei Wikipedia, dass Leute Ereignisse fortlaufend aktualisieren, und auch in Blogs geschieht das, auch Google Wave könnte hier ein wichtiges Werkzeug sein. Man wird auch in Zukunft vielleicht noch Artikel schreiben, also etwas, das 200 Zeilen Text beinhaltet. Rundherum sollten aber zusätzliche Informationen sein, wie relevante Verweise, Hintergründe, Zitate, Fotos, und eine Zeitachse der Geschichte. Es muss etwas sein, das lebendiger ist als ein einzelner Artikel. Das Problem mit einem Artikel in einer von der Suche dominierten Welt ist, dass Artikel kommen und gehen und nicht das bekommen, was ich als Google-Elixier bezeichne. Je aktueller ein Artikel ist, desto mehr wird er verlinkt. Insofern ist der klassische Artikel altmodisch. Google versucht gerade mit "Living Stories", gemeinsam mit der "New York Times" und der "Washington Post" ein neues Format für diese Anforderungen zu entwickeln. Auch Daylife, ein Unternehmen bei dem ich beteiligt bin, arbeitet daran.
derStandard.at: Warum fällt es den Verlegern schwer, solche Formate selber zu entwickeln?
Jarvis: Ich weiß nicht, ob Verleger ins Technologiegeschäft einsteigen wollen. Das schöne online ist, dass man die Plattformen, die es gibt, meist gratis nutzen kann. Als ich noch in der Zeitungsbranche tätig war, waren wir stolz auf unser Computersystem, für das wir Millionen von Dollar verschwendet hatten, um genau das zu machen, was die anderen auch machten. Dann kam der Macintosh, der es jedem erlaubte, Zeitungen zu entwickeln. Das sparte ein Vermögen. Und heute gibt es diese Werkzeuge, die einem ermöglichen, beinahe ohne Kosten zu publizieren. Im Grunde liefert mir Google alles, was ich brauche. Das kostet nicht nur nichts, sondern liefert über die Werbung sogar noch Geld.
derStandard.at: Google wird oftmals für die Macht und Kontrolle über die enormen Mengen von Daten kritisiert. Ist es nicht gefährlich, einem Unternehmen so viel Macht zu überlassen und davon abhängig zu sein?
Jarvis: Die Ironie unserer Welt ist, dass wir Erfolg auf der einen Seite lieben, auf der anderen Seite aber wieder hassen. Das ist ein kulturelles Problem, das wir alle haben. Wäre Google mit illegalen Methoden dorthin gekommen, wäre es ein anderes Thema. Außerdem ist man nicht an Google gebunden, und auch die Nachrichtenbranche hätte mit Google konkurrieren können, hat aber versagt. Google hat das Werbemodell komplett umgedreht und verkauft die Leistung, nicht den Platz der Werbung, und teilt somit das Risiko mit den Werbetreibenden, und hat gleichzeitig die Kosten gesenkt. Warum sollten also Werber nicht das bessere Angebot nehmen? Sie haben die Verleger aus gutem Grund verlassen. (Michael Kremmel/derStandard.at)