Darf Religion in unserer säkularen Gesellschaft sichtbar sein? Der allgemeine Konsens lautet: eher nicht. Das gilt nicht nur für den Islam, sondern durchaus auch für das Christentum. Öffentliche Religionsausübung ist ein Ärgernis. Sie ist peinlich und nervt. Kirchtürme und Weihnachtskrippen sind okay, das geht als Kultur und Folklore durch. Kreuze sind umstritten. Aber Frömmigkeit in der Öffentlichkeit ist unmöglich.

Das scheint mir der Kern unseres Problems mit dem Islam zu sein: Die Muslime haben das Diskretionsgebot für Religionen noch nicht verinnerlicht. In der Gesellschaft, aus der sie kommen, ist sichtbare Religiosität so normal, wie sie es in der unseren zur Zeit unserer Großeltern war. Diese Ungleichzeitigkeit macht den Clash of Cultures aus, mehr noch als unterschiedliche Werte oder Glaubensinhalte.

In den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts war Don Camillo weit über Italien hinaus eine populäre Figur. Der Pfarrer mit Soutane und Nepomuk-Hut, der sich ständig mit dem gekreuzigten Christus in der Dorfkirche unterhielt, war für Christen wie Kommunisten eine vertraute Erscheinung. Wenn heute geistliche Herren im gleichen Outfit in der Öffentlichkeit gesichtet werden, erregen sie Anstoß. Man weiß sofort: Das sind Mitglieder der fundamentalistischen Pius-Bruderschaft. Sie sind nicht nur fromm, sie sind provozierend fromm. Und auch orthodoxe Juden mit Kippa und Schläfenlocken lassen nicht nur Antisemiten auf Distanz gehen. Was seinerzeit im Schtetl normal war, ist in der modernen Großtadt eben nicht normal.

Und die Kopftuchfrauen? Sie bekommen die ganze Abneigung zu spüren, die wir gegen Leute hegen, die ihre Religion allzu auftrumpfend zur Schau tragen. Dabei tragen die meisten von ihnen ihr Tuch gleichsam ohne Hintergedanken. Man trägt es, weil es sich so gehört, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der hierzulande früher die verheirateten Frauen auf dem Land ihre Kopftücheln umbanden. Und bei vielen emanzipierten jungen Frauen ist das Kopftuch weniger eine religiöse Demonstration als ein Zeichen des Selbstbewusstseins: Wir sind Moslemfrauen und wir stehen dazu.

Islamskeptiker und -feinde machen für ihre Bedenken meistens demokratische Werthaltungen geltend. Man ist gegen die Unterdrückung der Frau in vielen islamischen Gesellschaften, man ist gegen Gewalt, gegen Intoleranz, für Offenheit und Gleichberechtigung. Bei vielen, die normalerweise gar nicht so demokratisch, tolerant und frauenfreundlich sind, ist das eine Schutzbehauptung für blanken Ausländerhass.

Aber auch viele aufgeklärte Liberale und Linke rümpfen die Nase im Angesicht von Kopftüchern und Minaretten. Mühsam genug ist man die Dominanz der katholischen Kirche losgeworden, denken sie insgeheim, und jetzt kommt der religiöse Obskurantismus neuerlich daher, diesmal im Gewand des Islam.

Aber es hilft nichts: Religion scheint ein bleibendes Element der menschlichen Gesellschaft zu sein, ob es uns nun gefällt oder nicht. An die Kirchtürme haben wir uns längst gewöhnt. An die Minarette werden wir uns früher oder später gewöhnen müssen. (Barbara Coudenhove-Kalergi/DER STANDARD, Printausgabe, 22.12.2009)