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Blick durch Kindheitsschleier: F. Mayröcker.

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Wien - Das Werk der Dichterin Friederike Mayröcker, die morgen Sonntag unglaublicherweise 85 Jahre alt wird, ist nicht allein den pulverigen Sandspuren von Deinzendorf entsprossen: jenem Ort im Bezirk Hollabrunn, dessen Fauna in "langsamen Blitzen" die Bilderketten der Lyrikerin durchwirkt.

In Deinzendorf war Mayröcker noch ganz das behütete Kind: jene "Fritzi", deren Zettelwirtschaft den Literaturbetrieb bis heute in ungläubiges Staunen versetzt. Kindheitslandschaften sind das Formularpapier, in das poetische Existenzen eingetragen werden. Mayröcker, deren Arbeit vegetabil erscheint - und somit gegen äußere Erschütterungen unempfindlich -, deren Texte in scheinbar organischem Wachstum aus Wortsprossen und Zitat-Keimen hervorgehen, hat die Fährnisse des Zeitverlusts endgültig überwunden.

Ihre fragilen, dennoch streng und gewissenhaft bearbeiteten Notate gleichen Explosionserscheinungen. Die Elemente der Sprache, durchaus schockhaft gegeneinander gesetzt, beginnen einander in lockeren Gebilden wechselseitig zu erhellen: "Ich bin so traurig jetzt und habe Angst vor dem / Verlassen dieser Welt die ich so sehr geliebt mit ihren Blüthen / Büschen Bäumen Monden mit ihren wunderbaren nächtlichen / Geschöpfen."

Es wird gerne vergessen, dass Mayröcker während vieler Jahre die Existenz einer öffentlich wenig gelittenen Dichterin durchleiden musste, ehe sie zur Prima inter pares werden konnte. Als Lehrerin, die im Umraum der Wiener Gruppe wenig Prestige genoss, bedurfte es schließlich auch der Nähe zu ihrem Lebensmenschen Ernst Jandl - und der Fürsprache durch Andreas Okopenko oder Otto Breicha -, um ihre modernistische Schreibhaltung als absolut unverwechselbare Position zu etablieren.

Die zündende Erscheinung des Augenblicks, die als Sprachgeschehen den Keim für etwas Ungewisses, Großes bereits in sich enthält, feiert in Mayröckers Gedichten und Prosa einen ewigen Karneval: Es wird einem heimgeleuchtet in diesen Gebilden, in denen einige der nobelsten Themen der Moderne (die Überwindung der Zeit, die Registratur des Alters) im berühmten mehrfachen Sinne aufgehoben sind.

Friederike Mayröckers bisherige lyrische Lebensernte gibt es zu bestaunen und wiederzulesen: In dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif sind die Gedichte der letzten fünf Jahre komplett versammelt. Mayröckers erschütternden Abschiedsgesang auf ihren Gefährten Jandl gibt es in Und ich schüttelte einen Liebling nachzulesen (alle Suhrkamp). (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 19./20.12.2009)