Der Fall Hypo Alpe Adria Group endete dank Ihnen und mir - und aller übrigen Steuerzahler - ohne Pleite des Unternehmens. Nichtsdestotrotz mussten wir nicht auf ein archaisches Ritual verzichten, das mit Misserfolgen entsprechenden Formats regelmäßig einhergeht: der Forderung nach einem Kopf. In diesem Fall traf es Michael Kemmer, seit 2008 Vorstandsvorsitzender des Mehrheitseigentümers, der den berühmt-berüchtigten Hut nehmen musste.

Wenig überraschend, dass der bayerische Ministerpräsident personelle Konsequenzen angekündigt hatte, um "ohne Rücksicht auf Personen, auf Strukturen" aufklären zu können. Interessant - wenngleich in diesem Ritual ebenso wenig überraschend - die auf Kemmers Schritt folgende Erklärung eben dieses Ministerpräsidenten, der Rückzug sei "nicht verbunden mit irgendeiner Schuldzuweisung".

Wenn jemandem keine Schuld vorzuwerfen ist, weshalb fordert man dann seinen Kopf? Aufgrund schuldhaften Nichtwahrnehmens seiner Verantwortung geschieht es eben ausdrücklich nicht. Erfüllt er die Funktion eines modernen Sündenbocks? Dieser wurde ja in archaischer Zeit mit aller Schuld beladen und dann in die Wüste geschickt - übrigens das dritte Bild für das Geschehen, neben dem Rollen des Kopfes und dem Nehmen des Hutes.

Das Spiel, das hier abläuft, ruft immer wieder Erinnerungen an Mathematikstunden wach: Meldete sich für Aufgaben an der Tafel kein Freiwilliger, wurde vom Professor eben "ein Freiwilliger bestimmt". Während dort der Zynismus allein in der Wortwahl lag, liegt er hier in der Tatsache, dass man von jemandem fordert, die Rolle des Sündenbocks zu übernehmen und in die Wüste zu gehen (auf einem anderen Blatt steht, dass bei entsprechender Kooperationsbereitschaft in vielen Fällen die Wüste nicht Endstation ist, sondern nach einer Zeit der Läuterung wieder eine Oase winkt).

Um eines klar zu sagen: Ich bin ein vehementer Verfechter persönlicher Verantwortung! Und doch kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass dieses Konstrukt nur begrenzt tauglich ist. Mit zunehmender Größe und Komplexität der Strukturen reduziert sich die persönliche Gestaltungsmöglichkeit des Einzelnen - womit die Exekution persönlicher Verantwortung einen unmoralischen Beigeschmack erhält.

Andererseits gibt es in Organisationen Stellen, deren Entlohnung weder mit der persönlichen Leistung korreliert noch mit dem persönlichen Arbeitseinsatz. Begründet wird die Höhe in diesen Fällen mit der besonderen persönlichen Verantwortung. Insofern ist die Einforderung dieser Verantwortung dann auch konsequent. Solange der Mythos des großen Unternehmenslenkers in guten Zeiten aufrechterhalten wird, fordert das Gesetz der Ausgewogenheit die Gültigkeit des Mythos auch in schlechten Zeiten. - Ob es vernünftig ist oder gar human, bleibe dahingestellt. Offensichtlich leben aber beide Seiten gut in der archaischen Tradition: Die eine, weil sie in good times ihre Opfergaben erhält, und die andere, weil sie in "bad times" einen Sündenbock opfern kann. Um Rationalität geht es hier nicht. Opfergaben beziehen ihre Legitimität allein aus dem Glauben - etwa an den Mythos des Unternehmenslenkers, dessen Hände das Schicksal der Organisation formen und der daher nolens volens dafür die Verantwortung trägt... (Johannes Gotsmy, DER STANDARD, Printausgabe, 16.12.2009)