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"Die Online-Community hat uns viele der anfänglichen Barrieren abgenommen", so Andreas Pöschek (gasometer.cc).

Foto: REUTERS/Michael Leckel

Es war im Frühjahr 2001, die Dotcom-Blase war geplatzt, die virtuelle Aktionsplattform eBay machte erst ein knappes Zehntel des heutigen Umsatzes, die New Yorker Twin-Towers standen noch und in Simmering klaffte eine der größten Baustellen Mitteleuropas: Die vier Gasometer, ehemalige Gasbehälter im Südosten Wiens wurden zu Wohnhäusern umgebaut. Der damalige Informatikstudent Andreas Pöschek war, wie andere auch, gekommen, um seine zukünftige Wohnung zu besichten. Gemeinsam inspizierten die künftigen Bewohner die Räume mit den unverputzten Wänden und Estrichböden, verstellt von Gerüsten und Absperrbändern. Beim Verabschieden vereinbarte man in Kontakt zu bleiben. Via Internet versteht sich, denn es war die Hochzeit der privaten Homepages, Chatrooms und Instant-Messengers.

Gleichheit, Brüderlichkeit

Gesagt, getan. Bereits fünf Tage nach dem ersten Treffen hatte Andreas Pöschek mit gasometer.cc eine Plattform gebastelt, auf der er Fotos des Rohbaus seiner Wohnung veröffentlichte und seine künftigen Nachbarn taten es ihm gleich. Im Forum diskutierte man über Grundrisse, Bodenbeläge, das Voranschreiten des Baus, Pannen und schließlich auch über die persönliche Freizeitgestaltung. Nach und nach stießen weitere Gasometerbewohner hinzu und als im Sommer desselben Jahres die erste Wohnungseinweihungsparty gefeiert wurde, hatten sich bereits an die 800 der künftigen 1.600 Bewohner auf gasometer.cc angemeldet.

Eine "Estrichparty" jagte die andere, man traf sich bei wöchentlichen Stammtischen, tauschte sich über bauliche Probleme, oder über Ärger mit der Hausverwaltung aus. "Die Community war insofern eine homogene Gruppe, als dass wir uns alle in einer ähnlichen Situation befanden. Durch den Umzug bildeten sich neue Bekanntschaften abseits von Arbeit und Freundeskreis", sagt Pöschek, "die Online-Community hat uns viele der anfänglichen Barrieren abgenommen. Wir wussten somit schon vor dem Einzug, wer unsere Nachbarn sein werden. Dass beispielsweise drei Türen weiter eine nette Familie mit zwei kleinen Kindern wohnen wird." Schnell schloss man sich je nach Interessen für gemeinsame Freizeitaktivitäten zusammen und das Gasometer wurde dadurch zum Dorf in der Stadt, erzählt Pöschek: "Das Internet hat geholfen Berührungsängste abzubauen."

Wohnpark Village

Berührungsängste abbauen, das wollte auch Albert Leidinger. Ein bisschen neidisch sei er schon gewesen, auf die Gasometerplattform, sagt der Grafiker, während er gedankenverloren in seiner heißen Schokolade umrührt. Immerhin habe die Idee, eine Online-Plattform einzurichten schon lange in seinem Kopf gespukt. „Seit den späten 1990er Jahren. Aber ich dachte, irgendwer würde schon damit anfangen", sagt Leidinger. Nachdem er von gasometer.cc erfuhr, machte er sich an die Arbeit. Heraus kam alterlaa.net.

"Damals hatten noch alle die Idee des Global Village im Kopf." Nichts schien unmöglich. Auch nicht, den Ruf der "Bettenburg" loszuwerden, die dem größten nicht-kommunalen Wohnpark des Landes anhaftet. "Mir ging es um Austausch und Kontakt", sagt Leidinger. Der Mittdreißiger, der seit seiner Kindheit im Wohnpark lebt, hatte die Vision, die rund 30 Freizeitklubs, die seit dem Bezug der ersten Blöcke in den 1970er Jahren gegründet wurden, zu vernetzen. Und nicht nur das: "Ursprünglich wollte ich das ganze Grätzel rund um den Wohnpark in einem einzigen Forum zusammenführen." Leidinger seufzt. Anfangs waren viele der über 10.000 Bewohner des Liesinger Wohnparks Feuer und Flamme gewesen. Hatten die Vorzüge des Forums genutzt, etwa sich unkompliziert von einem Nachbarn einen Fliesenschneider zu borgen, anstatt sich um teures Geld selbst einen zu kaufen. Es gab regelmäßige Stammtische, einmal organisierte Leidinger ein gemeinsames Kart-Rennen. 70 Nachbarn kamen. Oft war von einem Wiederholungstermin die Rede, stattgefunden hat er bis jetzt nicht. "Es gibt immer ein paar, die was machen wollen, aber die tun das auch ohne Vernetzung durchs Internet", sagt Leidinger.

Digitale Realität

Mittlerweile wirkt Leidinger desillusioniert. Rund 300 Zugriffe verzeichnet alterlaa.net heute täglich. Die, die die Website nutzen, seien immer die gleichen. "Es ist sicher nicht tot, aber das Leben hat sich vom Portal wegbewegt", sagt Leidinger. Warum? "Das Web unterstützt definitiv beim Kontaktsuchen und Kennenlernen. Aber wenn einmal Wurzeln geschlagen sind, ist es nicht mehr notwendig: Diejenigen, die miteinander kommunizieren und sich treffen wollen, tun dies so oder so", sagt Leidinger.

Eine Entwicklung, die auch gasometer.cc eingeholt hat: Zwei Hochzeiten von einst einander unbekannten Gasometerbewohnern, eine Diplomarbeit und zwei Dissertationen zum Phänomen gasometer.cc später, datieren in vielen Foren die letzten Einträge vor zwei Jahren. Mit etwa 30 Usern beziffert Pöschek den harten Kern. "Die Community hat sich gefestigt", sagt Pöschek. "Es wird nicht mehr soviel Außen kommuniziert." "Außen", soll heißen für jederman zugänglich. Den wöchentlichen Stammtisch gibt es schon längst nicht mehr. "Man kennt jetzt alle Nachbarn einigermaßen gut, aber treffen tut man sich mit den Freunden." Warum gasometer.cc anfänglich so "abghoben" habe, wie Leidinger sagt, lag vor allem daran, dass die Gemeinsamkeiten die Bewohner verbunden haben. Den von den Hausbetreibern iniziierten Plattformen, wie etwa e-living von der Gesiba, war weniger Erfolg beschieden. "Die hatten zum einen einen kommerziellen Hintergrund, und das haben die Bewohner geschmeckt", sagt Pöschek. "Zum anderen möchte man Probleme mit der Hausverwaltung, über die man sich ärgert auch nicht unbedingt auf deren Website diskutieren." Geblieben ist von e-living lediglich eine Service-Plattform, um mit der Hausverwaltung zu kommunizieren.

Neuorientierung

Auch bei gasometer.cc sind inzwischen die Gemeinsamkeiten, die beim Einzug verbunden haben, in den Hintergrund getreten. "Jetzt sind andere Themen wichtig", sagt Pöschek. Zuzüge und Neuorientierungen hätten die Community von einst geändert.

Davon kann auch Albert Leidinger ein Lied singen: "Die Offenheit ist nach einiger Zeit einfach nicht mehr da." Im Endeffekt würde das Internet nicht allzuviel ändern, meint Leidinger: "Die, die Kontakte suchen, tun das auch im wirklichen Leben. So wie etwa in den 1970er Jahren aus gemeinsamen Jam-Sessions auf dem Balkon einer der vielen Klubs im Wohnpark entstanden ist. Dafür bedarf es keines World Wide Webs."

Man käme zwar einfach in Kontakt, doch die digitale Kommunikation ersetze die reale nicht. Vor einigen Jahren hätte ein Wohnparkbewohner im Forum sein Herz ausgeschüttet, erzählt Leidinger. Er sei schwer zuckerkrank und seine Krankheit behindere ihn sehr. Die alterlaa.net-Community lud ihn immer wieder zum Stammtisch ein. "Gekommen ist er nie." Unregelmäßig postete er im Forum, wenn er Hilfe brauchte. Dann ließ er wieder lange nichts von sich hören. Eines Tages fand man ihn tot in seiner Wohnung. Er hatte bereits wochenlang so dagelegen. (bock, derStandard.at, 21.10.2009)