"Nicht alles ist rosig im großen Garten." Ein Tyrannosaurus Rex hätte jetzt in Berlin gern einmal einen Ankylo-Saurier mit Schrippe und Senf gekostet.

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Ein schriller Schrei aus hunderten Kindermündern durchschneidet den Raum: "Neiiiin!" Als zu dröhnendem Orchesterkitsch sowie Donner und Blitz der erste der Giganten, ein mit drei Metern Höhe und neun Metern Länge eher bescheiden dimensionierter Plateosaurus, in die Arena trampelt, ist die Not im Auditorium groß. Kinder lieben zwar Dinosaurier ebenso wie Piraten, Sternenkrieger oder den Kung Fu Panda. Saurierbücher kann man allerdings zuklappen und den Fernsehapparat abschalten. In der mit zwei- bis dreitausend Kleinfamilien gefüllten Berliner O2-Arena hilft angesichts der tatsächlichen Größe der naturalistisch nachgebauten und ferngesteuerten Dinos nur noch eine mühsam erlernte Kulturtechnik: "Mama, Papa, ich muss pinkeln!"

Während der Deutschland-Premiere von Dinosaurier - Im Reich der Giganten wird es noch einige Szenen geben, die viele Eltern versäumen werden.

Zwar drohen die gar schrecklichen Attacken der Urzeitmonster während der nächsten 90 Minuten oft hart an der Grenze zum Las-Vegas-Kitsch unterzugehen. Regie führte immerhin der dort über Shows von Siegfried & Roy gestählte Scott Farris. Und auch das restliche Team von Designern und (Animatronik-)Technikern arbeitete zuvor für nicht gerade künstlerisch subtile Produktionen wie Star Wars, die Eröffnungszeremonien von Olympischen Spielen, weltrekordverdächtige Silvesterfeuerwerke oder Broadway-Musicals. Dennoch hat die didaktisch aufgebaute Geschichte noch genug mit der Originalvorlage von BBC-Produzent Tim Haines zu tun.

Haines entwickelte die Geschichte der Dinosaurier vor knapp zehn Jahren zu einer der mit weltweit 700 Millionen Sehern erfolgreichsten und - es geht heute nicht ohne dieses Wort - spektakulärsten TV-Serien aller Zeiten. Live in der Großraumhalle müssen wir alle eben Kompromisse schließen.

Auf dem Urkontinent Pangea stinkt es nicht nur nach Saurierdung und Riesenfarnen. Die gesunde Berliner Neuzeiternährung zwischen Brat- und Currywurst, Schaschlik und Buletten macht langsam Lust auf rotes Fleisch. Gut, dass endlich der Urkontinent Pangea auseinanderbricht und "Archäologe Huxley" , der den Erzähler als Mischung aus Indiana Jones und Willi will's wissen gibt, begeistert schreit: "Auf der ganzen Welt explodiert die Vegetation!" Bunte Riesenpalmen fahren in der Arena in die Höhe, Pflanzen, so groß wie eine Dorfkirche. Die Kinder sind begeistert: "Hallo!" Huxley: "Willkommen im Jura."

Rex in the City

Wo es viel Heu gibt, werden die Kühe größer. Ein mit fünfeinhalb Meter Höhe und elf Meter Länge gut im Saft stehender Vegetarier taucht auf, der Stegosaurus. Huxley: "Dieser Bursche frisst pro Monat sein eigenes Körpergewicht, nur um zu überleben. Ich hatte mal so einen Onkel." Im späten Jura gesellen sich dann der langhalsige Brachiosaurus (mit süßem neun Meter hohem Kind) und die Tyrannenvorstufe Allosaurus dazu. Ein Fleischtiger, der bei vielen Kleinen wieder für Harndrang sorgt.

Urzeit macht hungrig. Nach einer 20-minütigen Pause, die der Berliner wieder mit dem Verzehr von rotem Fleisch verbringt, vergehen jetzt 60 Millionen Jahre. Aus dem Jura ist die Kreidezeit geworden. Ein riesiger Flugsaurier schwebt von der Decke herab und böllert mit 3D-Technik über Berg und Tal. Unten am Boden warten schon neue Carnivoren: "Darf ich vorstellen, der Utahraptor. Für ihn zählt nicht Qualität, sondern Quantität." Einmal Saurier mit Schrippe, bitte!

Doch auch Blumen schießen in die Höhe. Die Kinder sind begeistert: "Ui!" Huxley erklärt: "Blumen sind für Insekten nur ein Blickfang der Evolution, so wie für uns Dekolletees oder Sportwagen."

Torosauren kämpfen nun brüllend und polternd gegeneinander: "Nicht alles ist rosig im großen Garten." Das Klima erwärmt sich, Vulkane brechen aus, der Regen wird sauer, die Pflanzen sterben, dann die Tiere. Am Ende der Kreidezeit und als Höhepunkt der Show kämpfen endlich der mächtige Tyrannosaurus Rex, das mit lautem "Hallo!" und "Nicht so laut!" begrüßte "ultimative Raubtier", und der bullige Körndlfresser Ankylosaurus gegeneinander. Das Weltenende naht. Huxley richtet sich durchaus zivilisationskritisch ans Publikum: "Ihre Schädel sind so dick, dass das Gehirn kaum Platz hat. Aber wer braucht schon Gehirn, wenn er Muskeln hat?"

Dann ist alles aus. Zumindest für zig Millionen Mal schlafen. Die Welt geht unter. Ein Komet mit zehn Kilometer Durchmesser schlägt auf der Erde ein. 95 Prozent aller Saurier verschwinden. Sie regierten 170 Millionen Jahre die Erde. Heute machen sie getarnt als Vögel weiter. Ein letztes Mal hebt die Musik tosend an. Die Evolution hat gesiegt. Nur beim überempfindlichen menschlichen Gehör hat sie bis heute versagt. Aber sie arbeitet dran. In Berlin wurde vor 20 Jahren der Techno erfunden. (Christian Schachinger aus Berlin, DER STANDARD/Printausgabe, 12./13.12.2009)