"Es ist schwer, ihn zu vermessen, wenn er sich ständig irgendwo versteckt." Die junge Gynäkologin, die den Bauch meiner Freundin Michaela mit dem Ultraschallgerät abtastet, braucht lange, bis sie endlich findet, was sie sucht. "Hier ist er", sagt sie, und beim zweiten Mal Hinsehen erkennen auch wir auf dem Monitor den Fötus, der bereits menschliche Züge aufweist. Bei der letzten Untersuchung war unser Sohn noch ein winziges Wasserwesen, bei dem Kopf, Rumpf, Arme und Beine zwar erkennbar waren, das aber nur entfernt an einen Menschen erinnerte. Trotz dieser Fortschritte ist es kaum vorstellbar, dass sich dieser kleine Körper bis zu seiner Geburt in dreieinhalb Monaten zu einem Baby mit drei oder vier Kilo entwickelt haben wird.

Bei dieser Untersuchung soll wieder einmal festgestellt werden, ob die Organe gesund sind und das Wachstum normal verläuft. Das kleine Wesen scheint sich aber nicht gerne vermessen zu lassen und verschwindet gleich wieder irgendwo in seinem Universum.

Mir fällt es ein wenig schwer, den Fötus auf dem Bildschirm mit dem Namen Valentin in Verbindung zu bringen. Für mich sehen in diesem Entwicklungsstadium alle Föten gleich aus. Als es der Gynäkologin aber einmal gelingt, von Valentins Gesicht eine Nahaufnahme zu machen, und sie meint, dass er mir ähnlich sieht, lasse ich mir das Bild gleich ausdrucken. Ab jetzt sehe ich Valentin natürlich mit anderen Augen.

Unkooperativ

Dass Valentin Ärzten gegenüber eher unkooperativ ist, zeigte sich auch kürzlich bei der Fruchtwasseruntersuchung. Als die Nadel durch die Bauchdecke in seinen Lebensraum eindrang, verschwand er nach einer kurzen Besichtigung des spitzen Dings gleich wieder von der Bildfläche. Damals waren die Ärzte über sein Verhalten froh, weil bei einer Fruchtwasseruntersuchung ja die Gefahr einer Verletzung des Fötus durch die Nadel besteht.

Weniger froh über Valentins unkooperatives Verhalten ist die Gynäkologin, die lange braucht, bis sie endlich alle relevanten Daten beisammenhat. Während die Ärztin am Computer arbeitet, betrachten meine Freundin und ich das Standbild auf dem Monitor, das unseren Sohn daumenlutschend in seiner letzten Position zeigt. Sobald die Untersuchung abgeschlossen ist, möchten wir nach Schönbrunn in den Zoo fahren, für den wir uns nach Valentins Geburt Mitte Jänner 2009 eine Jahreskarte kaufen wollen. Aber die Ärztin lässt sich Zeit und gibt immer wieder neue Zahlen in den Computer ein. Schließlich druckt sie ein paar Seiten aus und steht auf. "Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss kurz mit dem Herrn Professor sprechen."

"Ihr Kind ist zu klein"

Ein paar Minuten später kommt sie zurück und setzt sich erneut an den Computer. Erst jetzt fallen mir die vielen Babyfotos an den Wänden auf. "Es gibt da ein Problem. Ihr Kind ist zu klein. Ich habe mit dem Herrn Professor gesprochen, und er meint, dass Ihr Kind massiv unterversorgt wird." Da sie sieht, dass wir nicht verstehen, was sie sagt, fügt sie hinzu: "Es handelt sich offenbar um eine ausgeprägte Plazentainsuffizienz. Mir tut das sehr leid."

Michaela, die immer noch auf dem Bett liegt, setzt sich auf. "Kann ich bitte ein Glas Wasser haben." Die Ärztin bringt ihr ein Glas Wasser, das Michaela in einem Zug leert. "Entschuldigen Sie", sage ich, "aber bisher ist doch die Schwangerschaft normal verlaufen. Und es gibt doch auch Babys, die bereits im sechsten Monat zur Welt kommen und überleben."

"Aber ich verstehe das nicht"

Die Gynäkologin zeigt uns ein Diagramm mit zwei Kurven. Es ist einer der Ausdrucke, die sie dem Herrn Professor gezeigt hat. Eine Kurve zeigt den Normalverlauf einer Schwangerschaft, die andere Kurve verläuft bis zur 20. Schwangerschaftswoche ident mit der Normalkurve und macht dann eine deutliche Krümmung nach unten. Ich schaue zuerst auf die Kurve, dann auf das Bild am Monitor. Was hat diese Kurve mit unserem daumenlutschenden Sohn zu tun? Und was bedeutet das Ende dieser Kurve? "Aber ich verstehe das nicht", sage ich, "bei der letzten Untersuchung vor einem Monat hat man uns doch gesagt, dass alle Organe gesund sind und auch das Gewicht und die Größe des Kindes passen."

"Das stimmt auch", antwortet die Ärztin, "aber in Ihrem Fall ist die Plazentainsuffizienz erst zu einem späteren Zeitpunkt aufgetreten." Michaela wirft einen ungläubigen Blick auf das Diagramm. "Gibt es eine Möglichkeit, dass sich das wieder gibt? Ich meine, es sind ja immerhin noch dreieinhalb Monate bis zur Geburt. Da muss es doch irgendetwas geben, damit das Kind normal weiterwächst." Gibt es aber nicht.

Eine halbe Stunde später stehen wir auf dem Gehsteig vor der Klinik. Schwangere Frauen gehen an uns vorbei, einige lachen, andere schieben Kinderwägen. Michaela umarmt mich und weint. "Weißt du, was", sage ich, "wir fahren jetzt in den Tierpark. Ich brauche dringend frische Luft."

Falsche Richtung

Wir steigen in die U-Bahn und fahren prompt in die falsche Richtung. In meinem Kopf geht es drunter und drüber, und ich habe immer noch das Monitor-Standbild vor Augen. Ich denke an dieses Bild und an das Diagramm und habe das Gefühl, dass sich das Kind, um das es geht, nach wie vor in der Klinik befindet. Erst als ich auf Michaelas Bauch schaue, wird mir bewusst, dass dieses Kind hier bei uns ist und – hoffentlich – sein Leben im Fruchtwasser genießt. Michaela und ich sehen einander an und wissen nicht, was wir sagen sollen. In Heiligenstadt merken wir dann, dass wir die falsche U-Bahn genommen haben. Wir wechseln den Bahnsteig und fahren nach Schönbrunn.

Auf dem Weg zum Zoo kommen uns massenhaft Mütter mit Kleinkindern entgegen. Außerdem sehe ich nur noch Schwangere. "Ich schaffe das nicht", sage ich zu Michaela und schlage vor, in das neu errichtete Wüstenhaus zu gehen, das außerhalb des Tierparks liegt. Wir sehen uns Kakteen und Schlangen an, und als ich in einem Terrarium neugeborene Nacktmulle sehe, die von den Elterntieren abgeleckt werden, kommen mir fast die Tränen.

Zu Hause finden wir im Postkasten einen Abholschein für ein Paket. Es ist von Michaelas Mutter, die für ihr Enkelkind etwas gestrickt hat. Ich hole das Paket ab, aber wir schaffen es nicht, es zu öffnen, und stellen es in den Schrank. Dort steht es bis heute ungeöffnet.

Später schaue ich mir den Befund an und sehe, dass Valentin bei fast allen Werten außerhalb der Norm liegt. Am Ende des Befunds steht: "Die Eltern verstehen, dass bei Verschlechterung der Situation es noch vor Erreichen der Lebensfähigkeit zu einem Tod des Kindes kommen kann." Mir fällt "Der Erlkönig" ein, dieses schaurige Gedicht von Goethe: "In seinen Armen das Kind war tot."

Der Zwerg ruft

Ich setze mich an den Computer und gebe in die Suchmaschine das Stichwort "Frühgeburt" ein. Hier erfahre ich, dass der frühestgeborene überlebende Mensch 2006 in der 22. Schwangerschaftswoche mit einer Größe von 24 cm und einem Gewicht von 280 Gramm zur Welt kam. Valentin hat laut Befund ein geschätztes Gewicht von 263 Gramm und ein Gestionsalter von 24 Wochen.

Beim Abendessen besprechen Michaela und ich, wie wir mit den anstehenden beruflichen Verpflichtungen umgehen sollen. Ich muss am nächsten Tag meine wöchentliche Kolumne für den STANDARD abliefern und soll in drei Tagen in Linz einen Vortrag halten. Das größere Problem sind aber die Proben zu meinem Stück "Der Zwerg ruft", die im Theater Phönix in Linz in einer Woche beginnen werden. Bei den Proben muss nicht nur ich als Regisseur, sondern auch Michaela als Bühnen- und Kostümbildnerin anwesend sein.

Während wir hin und her überlegen, gibt Valentin ein kräftiges Lebenszeichen von sich, und mich überkommen Schuldgefühle, weil ich völlig machtlos bin. Ich getraue mich in dieser Situation nicht einmal, meine Hand auf Michaelas Bauch zu legen. Wahrscheinlich ist es die Hilflosigkeit, die mir gerade in diesem Augenblick bewusst wird. Ich habe auch Angst, mich mit Valentin zu unterhalten, weil ich fürchte, dass er an meinem Tonfall merkt, dass etwas nicht stimmt.

Zurück in den Alltag

In den Tagen nach der deprimierenden Nachricht versuchen Michaela und ich, unseren Alltag zu strukturieren. Uns erscheint das wichtig, um nicht völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren. In einem Buch von Graham Greene finde ich das passende Zitat für uns: "Das Alltagsleben geht weiter, das hat schon manchen davor bewahrt, den Verstand zu verlieren." Also liefere ich meine Kolumne für den STANDARD zeitgerecht ab und fahre auch nach Linz, wo ich meinen Vortrag halte. Valentins Porträtfoto habe ich bei mir. An den Vortrag selbst kann ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern.

In Wien besuche ich einen Seelsorger, der auch ausgebildeter Psychotherapeut ist. Die Gespräche mit ihm helfen mir vor allem in den Phasen tiefster Depression. Einmal sagt er zu mir: "Kurt, denke daran, dass du nicht nur Vater, sondern auch Bruder, Onkel, Freund, Regisseur, Angler, Autor und vieles mehr bist. Wenn du dein Leben jetzt auf die Vaterrolle reduzierst, wirst du verrückt."

Nach einigen Tagen bin ich endlich wieder so weit, dass ich meine Hand auf Michaelas Bauch legen kann. Der Umstand, dass sich Valentin regelmäßig meldet und es Michaela körperlich gut geht, lässt uns ein wenig hoffen.

Vollendete Tatsachen

Eine Woche später haben wir einen Termin beim Herrn Professor, der uns vor vollendete Tatsachen stellt: "Da die Plazenta den Fötus nicht ausreichend versorgen kann, wird Ihr Kind in den nächsten Wochen sterben. Wir werden Sie hier im AKH bestmöglich betreuen, und Sie bekommen neben der medizinischen auch jede psychologische Hilfe, die Sie benötigen. Es tut mir sehr leid." Er wischt mit einem Papierhandtuch das Gel vom Bauch meiner Freundin und zielt mit dem Knäuel in einen Papierkorb, den er aber nicht trifft. Pech. Das ist auch seine Antwort auf die Frage nach den Ursachen der Plazentainsuffizienz. "In Ihrem Fall hat sich die Plazenta einfach falsch eingenistet. Das ist reines Pech."

Bisher haben wir es vermieden, uns mit der Möglichkeit einer Totgeburt auseinanderzusetzen, jetzt bleibt uns gar nichts anderes mehr übrig. "Was bedeutet das konkret?", frage ich. "Wird das tote Kind per Kaiserschnitt entbunden? Und was passiert mit dem Kind? Darf man das Kind dann sehen, oder wird es entsorgt? Ich habe von Totgeburten nicht die geringste Ahnung."

Die Psychotherapeutin, die zur Untersuchung beigezogen wurde, bietet uns an, anschließend mit ihr diese Fragen zu erörtern. Wenig später sitzen Michaela und ich im Kammerl der Therapeutin und erfahren, dass totgeborene Kinder genauso behandelt werden wie "normale" Tote. Demnach hat jedes totgeborene Kind das Recht auf einen Namen, das Recht auf die Unversehrtheit seines Körpers und das Recht auf eine Beerdigung. Bei Totgeburten – das sind Föten mit einem Gewicht von mehr als 500 Gramm zum Zeitpunkt der Geburt – besteht in Österreich sogar Bestattungspflicht. Bei Fehlgeburten, also Kindern, die zum Zeitpunkt der Geburt weniger als 500 Gramm wiegen, besteht das Bestattungsrecht. Und selbstverständlich können die Eltern mit dem toten Kind so lange zusammenbleiben, wie sie möchten.

Bevor wir das Krankenhaus verlassen, klären wir noch die Übermittlung der Krankenakte an die Landes-Frauen- und Kinderklinik in Linz, die während der Probenzeit am Theater Phönix Michaelas medizinische Betreuung übernehmen wird.

Michaela und ich haben jetzt also Zeit, uns darauf vorzubereiten, dass wir unseren Sohn Valentin nie lebend sehen werden. Diese Vorstellung ist umso schlimmer, als er nach wie vor regelmäßig Lebenszeichen von sich gibt. Gerade in solchen Momenten ist das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit am stärksten.

Eine Toten-, keine Taufkerze

Bevor wir für sieben Wochen nach Linz übersiedeln, haben Michaela und ich noch ein Gespräch mit der Leiterin einer Selbsthilfegruppe für verwaiste Eltern, und sie empfiehlt uns, Valentin nicht zu den Proben mitzunehmen, sondern ihn während dieser Zeit symbolisch im Bett in unserer Theaterwohnung schlafen zu lassen. Dieser Vorschlag hilft uns, und es gelingt uns auf diese Weise, im Theater sehr konzentriert zu arbeiten. Überhaupt erweisen sich in dieser emotionalen Ausnahmesituation klare Strukturen als große Hilfe. Am schlimmsten wäre jetzt sicherlich das Alleinsein. Auch die Ärztinnen und Ärzte der Klinik in Linz bestärken uns darin, weiterzuarbeiten und uns keinesfalls zurückzuziehen.

Nach fünf Wochen Probenzeit haben wir uns emotional so weit stabilisiert, dass wir ab und zu sogar auf ein kleines Wunder hoffen.

Als bei Michaela Anfang November allerdings Blutungen auftreten, sagt uns die untersuchende Ärztin in der LFKK, dass Valentin wahrscheinlich in den nächsten Tagen sterben wird. Obwohl Michaela bereits im achten Monat schwanger ist, wäre das Kind selbst bei einer Frühgeburt nicht überlebensfähig. Beim anschließenden Gespräch sind neben der Ärztin auch eine Psychotherapeutin und eine Krankenschwester anwesend, die uns darüber informieren, wie die Geburt des toten Kindes ablaufen wird.

Abschied nehmen

Später sprechen wir mit einer Seelsorgerin über die Möglichkeit des Abschiednehmens in der hauseigenen Kapelle. Das schwer zu Ertragende an unserer Situation ist, dass Valentin nach wie vor regelmäßig Lebenszeichen von sich gibt, wir aber darüber reden, wie wir von ihm Abschied nehmen werden.

Am nächsten Tag fahren Michaela und ich in ein Geschäft und kaufen eine flauschige Kinderdecke mit aufgestickten Blumen, in die wir Valentin nach seiner Geburt einwickeln wollen. Dann gehen wir in einen Laden und bestellen eine Kerze mit dem Schriftzug "Valentin". Als uns die Verkäuferin fragt, ob auf der Kerze auch "das Datum" stehen soll, schaue ich sie verdutzt an. "Was für ein Datum?" - "Na, das Taufdatum." Dass die Kerze eine Toten- und keine Taufkerze ist, sagen wir ihr nicht, es geht sie ja auch nichts an. In vier Tagen können wir die Kerze abholen.

In der Nacht vom 10. auf den 11. November passiert es dann. Nachdem sich Valentin seit zwei Tagen nicht mehr gemeldet hat, rechnen wir bereits mit dem Schlimmsten. Wir sind ziemlich beunruhigt, als er um Mitternacht plötzlich doch noch ein Lebenszeichen von sich gibt. Ich lege meine Hand auf Michaelas Bauch und spüre seine kräftigen Bewegungen. Wir freuen uns und schlafen halbwegs beruhigt ein.

Um halb zwei schrecke ich aus einem Albtraum hoch und weiß in diesem Augenblick, dass soeben der Tod unser Zimmer betreten hat. Ich habe Herzrasen und denke mir, dass hier etwas nicht stimmt. Ich spüre nämlich, dass der Tod nicht genau weiß, wen er holen soll. "Wieso ich?", denke ich mir, "es ist doch unser Kind, das sterben soll." Aber wenn ich noch einmal falsch ein- oder ausatme, sterbe auch ich. Ich stehe auf und kann mich kaum auf den Beinen halten. Ich reiße das Fenster auf. Draußen regnet es, und es sieht so aus, als würde die Welt untergehen. Michaela wacht auf und fragt verwirrt, was los sei. Ich bleibe am Fenster stehen und starre hinaus in die Finsternis.

"Ihr Kind ist leider gestorben"

Am nächsten Morgen fahren wir ins Krankenhaus. Eine junge Ärztin mit Kärntner Dialekt tastet Michaelas Bauch mit dem Ultraschallgerät ab. Ich erspare mir den Blick auf den Monitor und schaue auf den Metallrahmen des Bettes. Es ist ein tschechisches Produkt. "Ja, Ihr Kind ist leider gestorben", sagt die Ärztin und fügt als kleinen Trost hinzu: "Aber das war ohnehin zu erwarten." Ich spüre weder Trauer noch Verzweiflung, sondern nur eine große Leere. In der Früh habe ich von den Dubliners "The Town I Loved so Well" gehört. Eine Zeile aus diesem Lied geht mir jetzt durch den Kopf: "And what's lost is lost and gone forever." Unser Sohn Valentin ist also für immer von uns gegangen. Wir werden ihn nie in unseren Armen halten.

Auf der Station werden wir umfassend betreut. Michaela und ich bekommen ein Zweibettzimmer, und in den nächsten Tagen pendle ich zwischen dem Krankenhaus und dem Theater hin und her. Die heutige Abendprobe ist die einzige, die ich ausfallen lasse. Aber den Interviewtermin um 16 Uhr nehme ich wahr. Ich will nicht stundenlang ins Leere starren und weinen.

Wir wickeln ihn in eine Decke

Michaela möchte Valentin noch bei sich behalten. "Das entscheiden allein Sie", sagen die Ärzte. "Wir leiten die Geburt ein, sobald Sie sagen, dass Sie dazu bereit sind." Allerdings kann das tote Kind längstens zehn Tage im Mutterbauch bleiben. Ab diesem Zeitpunkt bestünde die Gefahr einer Infektion.

Ich setze mich in ein Taxi und hole die Kerze mit Valentins Namenszug ab. Die Taxifahrerin sagt zum Glück kein Wort. Im Radio läuft ein Lied von Herbert Grönemeyer. "Ich fühl mich leer und verbraucht, alles tut weh."

Im Krankenzimmer zünden wir die Kerze an und Michaela schreibt an Valentin einen Brief: "Es ist schön, dass Du noch in meinem Bauch bist und ich Dich nicht so schnell hergeben muss. Auch danke ich Dir, dass Du Dich verabschiedet hast, montags in der Nacht, als wir Dich noch ein letztes Mal spüren konnten. Ich wünsche mir, dass Deine Seele in dieser Nacht wohlbehalten heimgekehrt ist. Um Deinen kleinen Körper kümmern wir uns, so weit es in unserer Macht steht. Du wirst immer bei uns sein, Du bist ein Teil von uns geworden, bist unser erstes Kind, unser Sohn Valentin."

Geburt eingeleitet

Drei Tage bleibt Valentin noch in Michaelas Bauch, dann wird die Geburt eingeleitet. Bei den beiden Hebammen und dem diensthabenden Arzt fühlen wir uns sicher. Sie fragen, wie die Proben laufen und ob ich etwas essen möchte. Während Michaela auf die Geburt wartet, bringt mir eine der Hebammen einen Gemüseeintopf. "Essen Sie, es schmeckt besser, als es aussieht." Michaela lächelt und meint, dass sie momentan keinen Appetit habe.

Zwei Stunden später kommt Valentin zur Welt. Er wird gewogen und vermessen, dann legen sie ihn neben Michaela aufs Bett. Valentin ist ein kleines Baby, das nur 505 Gramm wiegt, bei dem aber alles da ist. Sogar winzige Finger- und Zehennägel hat er schon. Aber der kleine Körper ist kalt, und an einigen Stellen ist die Haut vom langen Liegen im Fruchtwasser bereits aufgerissen. Nach einer halben Stunde wickeln wir Valentin in die flauschige Decke, die wir für ihn gekauft haben, und legen ihn in einen kleinen viereckigen Weidenkorb.

In Mali habe ich Frauen gesehen, die anstelle ihrer verstorbenen Kinder Stofftiere auf ihren Rücken trugen. Sie haben dadurch die Möglichkeit, ihre Trauer öffentlich zu zeigen. Bei uns wird Trauer zur Privatsache erklärt.

Verabschiedung

Zwei Tage nach Valentins Geburt findet in der Kapelle des Krankenhauses die Verabschiedung statt. Der Korb mit Valentins Leichnam steht auf dem Altar. Michaela und ich haben ein kleines Programm zusammengestellt. Neben der Seelsorgerin sind noch Michaelas Eltern und meine Schwester anwesend.

Die Seelsorgerin liest zwei Briefe vor, die Michaela und ich an Valentin geschrieben haben, meine Schwester liest einen Text aus einem Begleitbuch für trauernde Eltern, wir hören "Blowin' in the Wind" von Bob Dylan und "Willow" von Joan Armatrading: "I said I'm strong / Straight / Willing / To be a shelter / In a storm / Your willow / Oh willow / When the sun is out." Ich spreche über unsere kurze Zeit mit Valentin und lese Anteilsbekundungen von Freunden, Verwandten und Bekannten vor. Wir zünden Schwimmkerzen an, und den Abschluss bildet ein Brief von Valentin an seine Eltern, den ich geschrieben habe. Ein schwacher Trost, aber immerhin ein Trost.

Ein paar Tage später wird Valentin samt Korb in einen Sarg gelegt und eingeäschert. Eine Woche nach Valentins Geburt findet im Theater Phönix die Premiere unseres Stücks "Der Zwerg ruft" statt. Auf dem Weg zum Theater sehe ich in einer Baulücke zwei große Distelzweige, die von einer Laterne angestrahlt werden und ein V bilden. Ich bleibe stehen und grüße Valentin mit dem V-Zeichen zurück. Mit 30 ausverkauften Vorstellungen wird die Produktion ein voller Erfolg.

Ende März 2009 wird Valentin gemeinsam mit anderen verstorbenen Kindern im Kindergrab der Landes-Frauen- und Kinderklinik am Barbarafriedhof in Linz beigesetzt. Zweimal im Jahr gibt es eine solche Beisetzung. Wir haben uns für diesen Friedhof entschieden, weil Valentin in Linz gestorben ist und er in diesem Grab nicht so allein ist.

Erst gestorben, dann geboren

Michaela trägt die Urne mit Valentins sterblichen Überresten von der Kapelle zum Grab. Auf dem Urnendeckel steht sein Name und sein Geburts- und Sterbedatum, wobei in allen Dokumenten der 14. November 2008 sowohl als Geburts- als auch als Sterbedatum angegeben wird, was allerdings falsch ist. Valentin ist am 11. November gestorben und am 14. November geboren. Aber mit diesem Paradoxon, dass jemand stirbt, bevor er geboren wird, können die Behörden offenbar nicht umgehen. Die Urne mit Valentins Asche hat die Nummer 16.117.

Nach der Beisetzung legen wir Muscheln aufs Grab, die wir in Neuseeland für unser totes Kind gesammelt haben. Anschließend fahren wir an den Attersee und freuen uns auf den Sommer. Das Leben geht weiter, und die Antwort kennt ohnehin nur der Wind. 2008 gab es in Österreich 258 Totgeburten. (Kurt Palm, Album, DER STANDARD, 12./13.12.2009)