"Man muss etwas zu verlieren haben. Demokratie funktioniert, wenn man etwas zu verteidigen hat": Karl Schlögel.

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STANDARD: Herr Professor Schlögel, das Megagedenkjahr 2009 neigt sich seinem Ende zu. Wenn Sie die Veranstaltungen, mit denen 1989 gewürdigt wurde, noch einmal geistig Revue passieren lassen, was ist Ihr Fazit? Gibt es da einen roten Faden, eine übereinstimmende historische Lesart, auf die man sich inzwischen geeinigt hat?

Schlögel: Nun, es war vor allem ein nochmaliges Durchleben der Geschehnisse von 1989. Dass es großartige neue wissenschaftliche Erkenntnisse gegeben hätte, sehe ich nicht. Was mich irritiert, war diese ungeheure Konzentration auf 1989 und das gleichzeitige Ausblenden des Umstands, dass wir heute zwanzig Jahre weiter sind. Ich hatte den Eindruck, man beschäftigt sich lieber mit dem abgeschlossenen Jahr 1989 als mit dem offenen Jahr 2009. Dabei legen beide Jahre eine gemeinsame Lehre nahe: Dass die Geschichte uns immer Geistesgegenwart abfordert, ein Offensein für das Unerwartete. Das Platzen der Blasen hat gezeigt, dass auch der Westen offenbar lange in den Tag hinein gelebt hat.

STANDARD: Glauben Sie, dass die Errungenschaften von 1989 - Durchsetzung der Demokratie, der Menschenrechte - heute so gefestigt sind, dass sie politisch unwidersprochen bleiben, quasi unumkehrbar sind? Und: Sind Kriege zwischen europäischen Staaten nach 1989 undenkbar geworden? Oder haben sich die Konflikte einfach nur auf andere Ebenen verlagert?

Schlögel: 1989 ist für mich in erster Linie das Ende des kurzen 20.Jahrhunderts von 1914 bis 1989, wie das Eric Hobsbawm genannt hat, das Ende eine Ausnahmezustandes mit einer unablässigen Abfolge von Kriegen, Bürgerkriegen und so fort. Ob man das Ende dieses Zustandes unter dem Begriff einer Hinwendung zur Demokratie analysiert, möchte ich einmal dahingestellt lassen. Natürlich haben uns die Ereignisse im Nordkaukasus oder in Jugoslawien gezeigt, dass es noch unaufgelöste Kapitel gibt. Es war niemand darauf gefasst, dass Sarajewo noch einmal passieren würde. Im Grunde glaube ich aber, dass dieser große Ausnahmezustand, der das 20. Jh. war, in Europa vorüber ist und dass sich die Probleme verlagert haben.

STANDARD: Ihr Buch über den stalinistischen Terror („Terror und Traum - Moskau 1937", Hanser 2008) wurde hymnisch rezensiert. Gibt es eine Verbindung zwischen den Verhältnissen im heutigen Russland und der Zeit der Gewaltherrschaft Stalins? Sind das Spätfolgen, auch was die Einstellung der Russen zu einem starken Führer betrifft, der schon alles richten wird?

Schlögel: Vielleicht nicht im direkten Sinn. Aber es gibt einen Zusammenhang mit einer Gewaltgeschichte, die über Jahrzehnte ging. In Deutschland wurde die Gewalt nach außen abgeleitet, mit dem Mord an den Juden und dem großen Krieg. Der russische oder sowjetische Teil ist anders: Es war ein Krieg gegen die eigene Gesellschaft. Dieser Blutverlust über Generationen, der Erste Weltkrieg, den wir meist vergessen, dann der Bürgerkrieg mit entsetzlichen Verlusten, die Emigration, die Kollektivierung mit der Vernichtung des Dorfes: Eigentlich ist Russland erst Ende der 1920er- , Anfang der 1930er-Jahre verschwunden, das war die große Zäsur. Der Zerstörung des alten, bäuerlichen Russland folgte dann die Selbstzerstörung der politischen Elite und alles dessen, was noch geblieben war, im Großen Terror. Und all das verschwindet dann im Schatten dessen, was kommen wird, nämlich des großen Krieges. Dass dieses buchstäbliche Ausbluten an einer Gesellschaft spurlos vorübergehen kann, das ist völlig ausgeschlossen.

STANDARD: Inwieweit leidet Russland heute noch an den Nachwirkungen dieser Geschichte?

Schlögel: Natürlich besteht ein Konnex zwischen der heutigen Schwäche der Opposition und dem Durchmarsch der politischen und ökonomischen Oligarchie Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre. Das große Erlebnis der zweiten Hälfte der 80er war, dass eine Gesellschaft zu sich kommt, eine Sprache findet und auf die Straße geht, dass es ein Pathos des bürgerlichen Engagements gibt, das ist für mich nicht weg. Das ist keine nostalgische Reminiszenz, sondern war für mich der Beleg dafür, dass eine Gesellschaft nicht verloren ist.

STANDARD: Aber die Kräfte, die damals in Erscheinung traten, scheinen im heutigen Russland keine Rolle mehr zu spielen.

Schlögel: Sie sind seit den späten 90er-Jahren überrumpelt, marginalisiert, dezimiert, hingerichtet worden. Sie sind exekutiert worden, auf offener Straße: Journalisten, Rechtsanwälte. Aber ich glaube, dass das nicht das letzte Wort ist.

STANDARD: Man muss Ihrer Meinung nach diese beiden sich überlagernden Traumata, den Großen Terror und den großen Krieg, immer mitdenken, um zu begreifen, warum sich bis heute keine nennenswerte Zivilgesellschaft, dafür in jüngster Zeit aber wieder ein Stalin-Kult entwickelt hat.

Schlögel: Es gibt nicht nur diese Traumatisierung. Es gibt auch einen anderen Prozess, an den ich mich hauptsächlich halte: eine in ungeheurem Tempo vor sich gehende Normalisierung und Einrichtung des Lebens jenseits des planwirtschaftlichen und sonstigen Ausnahmezustandes. Es hat eine Normalisierung in Form des Konsumismus gegeben.

Ich glaube, dass der Siegeszug von Ikea, über den viele die Nase rümpfen, eine unglaubliche Sache ist. Es ist die Möglichkeit von Leuten, sich neu einzurichten: der äußere Ausdruck dessen, dass sie ihr Leben neu gestalten wollen. Die Leute haben Ansprüche - und das ist doch meine Hoffnung -, von denen sie sagen, der Staat oder eine Partei hat da nichts hereinzureden. Wir wollen Urlaub in Antalya machen und gute Autos kaufen und endlich wie normale Bürger behandelt werden. Alles, was häufig unter Konsumismuskritik läuft, sehe ich in diesem Fall etwas anders.

Es gibt so etwas wie den Aufbau einer privaten Existenz, Akkumulation des Besitzes, den man dann auch verteidigt gegen Zugriffe. Es wird keine Zivilgesellschaft im emphatischen Sinn der Verteidigung politischer Rechte geben ohne diesen Grund, auf dem man ruht. Man muss etwas zu verlieren haben. Demokratie funktioniert, wenn man etwas zu verteidigen hat.

STANDARD: Erstaunlich, dass jemand wie Sie, der ideologisch der Linken zuzurechnen ist, zu diesem Schluss kommt: Demokratisierung durch den Kapitalismus des kleinen Mannes.

Schlögel: Man kann ja Marxist sein und zugleich die Verdienste der bürgerlichen Gesellschaft nicht in Abrede stellen. Der Marxismus wollte über die bürgerliche Gesellschaft hinaus. Wie weit das gelungen ist, wissen wir ja. Die Leistung der bürgerlichen Gesellschaft - Konkurrenz, Sinn für Privateigentum - kann doch keine Frage sein. Das große Unglück der russischen Gesellschaft war doch auch, dass eine bürgerliche Entwicklung abgebrochen wurde.

STANDARD: Sprechen Sie damit die wieder gestoppte Neue Ökonomische Politik (NEP) unter Lenin nach der Oktoberrevolution 1917 oder die Entwicklung nach 1989 an?

Schlögel: Es war der Erste Weltkrieg, der im Besonderen für Russland die große Katastrophe war, weil er ein hochdynamisches Land im Aufbruch getroffen und aus der Bahn geworfen hat. Und das eigentliche Ergebnis der russischen Revolution, das die Bauern in der Zeit der NEP erstmals zu Eigentümern machte, das hat Stalin durch die Zwangskollektivierung rückgängig gemacht, durch Rückführung in die Staatssklaverei. Das ist die große Katastrophe. Auch heute kann es eine stabile Entwicklung auf längere Sicht ohne Eigeninteressen einer relevanten Gruppe nicht geben. Nur sie kann sich diesem Staat und seinen Manipulationen entgegenstellen.

Das Verheerende an dieser Putin-Regierung ist ja, dass sie den Raum wieder geschlossen hat, in dem sich die kreativen, intelligenten und unternehmerischen Kräfte finden. Jelzin war groß darin, dass er der Gesellschaft mehr zugetraut hat: dass sie mit ihren Kräften klarkommt, dass sie eine gute Regierung für das große Land findet. Putin schreckt davor zurück. Er ist zu klein für dieses große Land. (DER STANDARD, Printausgabe, 12./13.12.2009)