"Viele verwechseln Oper mit Realitätsflucht, und ich kann mich sehr ärgern, wenn sich Kollegen dieser Verwechslung verschreiben, um zu gefallen." Regisseur Stefan Herheim bezieht Stellung.

Zur Person:
Stefan Herheim, geboren 1970 in Oslo, studierte dort u. a. Violoncello und dann Regie bei Götz Friedrich in Hamburg. 2004 erhielt er den Götz-Friedrich-Preis für Regie. Herheim unterrichtete u. a. in Oslo und in Berlin, wo er heute lebt.

Foto: Roland Schlager

Mit Herheim sprach Daniel Ender.

Standard: Herr Herheim, Sie wurden für Ihre Inszenierungen hochgejubelt und geprügelt - ich hoffe, nur bildlich. Wie gehen Sie mit diesem Wechselbad der Gefühle um?

Herheim: Relativ gelassen. Denn für mich ist es etwas Natürliches, wenn auf eine ernsthafte, künstlerische Auseinandersetzung mit einem Werk, das ja an sich ein Wechselbad der Gefühle auslöst, unterschiedliche Reaktionen folgen. Eine Aufführung ist ja nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Versuch, ein Werk zum Leben zu erwecken, indem die Künstler es verinnerlichen, um die wichtigsten Aspekte seines Gehalts so aufrichtig wie möglich zu vermitteln. Dass nicht alle Zuschauer darauf gleich reagieren, dass einige nicht in der Lage sind, den eingeschlagenen Weg nachzuvollziehen, dass man als Vermittler nicht immer jeden erreichen kann und vielleicht auch gar nicht will - das alles entspricht ja dem Leben selbst.

Standard: Manche fühlen sich von Ihren Regiearbeiten provoziert. Was provoziert denn Sie selbst?

Herheim: Die Ignoranz und Intoleranz, mit der man sich gelegentlich als Kulturschaffender konfrontiert sieht. An uns wird oft die irrsinnige Forderung gestellt, Erwartungen einzulösen, die für diese Kunstform tödlich sind. Viele verwechseln Oper mit Realitätsflucht, und ich kann mich sehr ärgern, wenn sich Kollegen dieser Verwechslung verschreiben, um zu gefallen. Viel mehr als das einstimmige "Heureka!" der großen Masse interessiert mich die Bereitschaft des Einzelnen, neue Wege einzuschlagen.

Standard: Sind Irritation und Schock hier probate Mittel?

Herheim: Selbstverständlich. Damit spekulierten bereits die Griechen. Was wären Shakespeare, Molière, Ibsen, Mozart, Verdi und Wagner, hätten sie sich die Freiheit nehmen lassen, ihr Publikum zu irritieren und zu schockieren? Die Zeiten haben sich geändert, die Mechanismen aber nicht. Wenn etwas konsequent vermittelt wird, das nicht fehlen darf, ohne das Ganze zu gefährden, sind auch die provokantesten Mittel legitim. Immerhin liegt ja die Aufgabe einer Opernregie darin, die Erfahrung von Grenzüberschreitungen sinnlich ebenso erfahrbar zu machen, wie die Musik es tut. Man darf aber nie vergessen, dass Freiheit im Umgang mit den Mitteln eine große Verantwortung bedeutet. Und immer ist die Kommunikationsbereitschaft aller gefragt, die sich an Oper beteiligen - das heißt: sowohl Künstler als auch Rezipienten -, damit Kunst wirklich passieren kann.

Standard: Wann fühlen Sie sich in Ihrer Arbeit verstanden?

Herheim: Natürlich geht es mir darum, mich in der Arbeit verständlich zu machen. Aber gerade das impliziert, dass man schwer Zugängliches, Unbekanntes, manchmal auch scheinbar Unverständliches vermitteln will - Sachen eben, die oft als offene Fragen formuliert werden müssen, damit sie ihre Wirkung entfalten; zum Beispiel das Eingestehen von Überforderung oder Unzulänglichkeit. Kunst mag in diesem Sinne unbequem erscheinen, darin liegt aber ihr größtes Unterhaltungspotenzial.

Standard: Was fasziniert Sie an der Gattung Oper?

Herheim: Die Unmöglichkeit, sie auf einen Nenner zu bringen. Dass sie jenseits der alltäglichen, hyperrationalisierten Versprachlichung unserer Wirklichkeit operiert. Dass sie an unser Vermögen appelliert, uns selbst und unsere Voraussetzungen wirklich wahrzunehmen. So wirkt Oper für mich wie ein Gegengift, das man als Mitglied dieser Gesellschaft braucht, weil Körper und Geist unter ständiger Intoxikation leiden und immer voneinander getrennt werden.

Standard: Ist Rusalka für Sie ein Naturwesen - oder etwas anderes?

Herheim: Es ist die Frage, wie man in diesem Zusammenhang Wesentliches erkennt und Natur definiert. Als Nixe, die liebend gern ein Mensch wäre, dafür einen unmenschlichen Preis zahlen muss, daraufhin von Menschen verstoßen wird und als seelenloses, verführerisches Irrlicht endet, ist der Elementargeist Rusalka zunächst eine tragische Märchengestalt. Als solche ist sie aber auch eine Projektionsfläche für verborgene Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen - also menschliche Eigenschaften. Doch im Gegensatz zu den Undinen und Melusinen von Hans Christian Andersen, E. T. A. Hoffmann oder Motte-Fouqué, deren Nixen-Geschichten als Vorlage für diese Oper dienten, eignet sich Rusalka - was auf Tschechisch "Wasserfrau" heißt - kaum als Identifikationsfigur im herkömmlichen Sinn.

Standard: Wie kann diese Figur greifbar gemacht werden?

Herheim: Dvorák und sein Librettist Kvapil erzählen ihr Nixendrama sehr brüchig und disparat, ja fast kolportagehaft. Obwohl die Musik sehr lyrisch, emotional und verführerisch ist, wechselt auch sie ständig und abrupt. Wie ihr Name schon sagt, gleitet Rusalka einem schnell durch die Finger. Sie ist für Menschen ebenso ungreifbar, wie sie einsam in die tiefe Flut - im allegorischen Abgrund des menschlichen Unterbewusstseins - hinabstürzt. Dies habe ich zum Anlass genommen, das Stück aus der Perspektive des Wassermanns zu erzählen: Rusalkas Vater - Herr über das Wasser, unter Menschen ein Ohnmächtiger - folgt seinem ungehorsamen Geschöpf auf dem Weg in der Menschenwelt. Bis zum bitteren Ende begleitet der Wassermann Rusalkas Scheitern aus passiver Ferne, seinen Verlust unentwegt lautstark beklagend. Für mich ist er der wirklich Getriebene in dieser Oper, die auf eine fast schockierend sublime Art und Weise von männlicher Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen, Liebe und Leben erzählt. So entpuppt sich Rusalka als ein existenzialistischer Psychothriller, als ein modernes, bürgerliches Trauerspiel, das im schillernden Gewand einer romantischen Märchenoper unheimlich trügerisch daherkommt.

Standard: Welche Rolle spielte Musik in Ihrer Jugend? Könnten Sie mir noch etwas auf dem Cello vorspielen? Und was am liebsten?

Herheim: Zurzeit würde ich wohl Dvoráks Cellokonzert wählen. Seit meiner Kindheit steht Musik im Zentrum meines Lebens. Cello zu lernen fiel mir als Kind ziemlich leicht. Aber durch die Nähe zum Musiktheater durch meinen Vater, der Bratschist an der Oper in Oslo war, kam es zu dieser anderen, großen Leidenschaft zur Musik im Verein mit der darstellenden Kunst. Ich wusste lange nicht, wo ich hinsteuern sollte, um beruflich anzukommen, und landete 1994 in Hamburg im Musiktheater-Regiestudium. Seit ich als Regisseur tätig bin, klappt es zeitlich gar nicht mehr zwischen meinem Cello und mir. Ich erspare Ihnen also das Konzert, denn völlig aus der Übung täte ich weder Ihnen noch Dvorák damit einen Gefallen. Lassen Sie es mich mit einer Rusalka-Inszenierung gutmachen.
(DER STANDARD, Printausgabe, 11.12.2009)