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Genug geforscht, die Zeit zum Handeln ist gekommen: Klima-Aktivist Al Gore.

Foto: Reuters/ Steve Marcus

"Ich war einmal der nächste Präsident der Vereinigten Staaten." Mit diesem Zitat begann Al Gore seine Präsentation im Rahmen von Eine unbequeme Wahrheit, jener oscar-prämierten Dokumentation zur Klimaproblematik, die die Basis für seine Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis 2007 war. Er spielte damit auf die im Jahr 2000 verlorene Wahl zur US-Präsidentschaft an, bei der er George W. Bush unterlegen war, obwohl dieser eine halbe Million Wählerstimmen weniger errang als Al Gore selbst. Gores neues Werk, das dank professionellen Timings kurz vor dem Weltklimagipfel erscheint, soll den Schwung des Vorgängerwerkes aufnehmen und den Ruf des Autors als Stimme des weltweiten Klimagewissens festigen.

Wir haben die Wahl - ein Plan zur Lösung der Klimakrise ist, und das zeigt sich schon beim bloßen ersten Durchblättern, ein beeindruckendes Buch. Die opulente Aufmachung und die Breite der Darstellung lassen keine Zweifel am hier gewählten Anspruch. Und tatsächlich, die Fülle an gebotenen Fakten ist beeindruckend, das Fotomaterial ist sorgfältig ausgewählt, die Grafiken sind von hoher Qualität. Das Buch nimmt sich nicht weniger vor, als die Klimaproblematik mitsamt ihren naturwissenschaftlichen Hintergründen, ihrem politischen Umfeld und ihrer wirtschaftlichen und ökologischen Konsequenz in allen Facetten gesamthaft aufzubereiten. Und so gelingt es tatsächlich, in den Einleitungskapiteln die chemisch-physikalischen Hintergründe, die zum anthropogenen Treibhauseffekt führen, darzustellen und sämtliche Formen der Energiebereitstellung hinsichtlich ihrer potenziellen Auswirkungen auf das Weltklima zu beschreiben.

Diese Dichte ist wohl dem selbstgewählten Anspruch auf Vollständigkeit geschuldet, geht aber sehr zulasten der Struktur und der Lesefreundlichkeit. Die Präsentation von Fakten, Hintergründen und Zusammenhängen wird in doppelspaltigen Fließtextseiten nahezu ungewichtet und ohne Fantasie abgespult. Ein Teil des Raumes, der für die zweifellos eindrucksvollen fotografischen Materialien eingenommen wird, wäre hier für eine sorgfältige Gliederung oder grafische Aufbereitung der Texte gut investiert gewesen.

Will man sich einen Gesamtüberblick verschaffen, wird die Lektüre der einzelnen Kapitel zu einer quälenden Prozedur. Nicht dass die Darstellungen fehlerhaft wären, lediglich die Fasslichkeit des Präsentierten und das Herausdestillieren der Kernaussagen werden durch diese teilweise lieblose Präsentation erschwert. Hat man sich nun aber durch die Darstellungen zu fossilen und regenerierbaren Energieformen durchgekämpft - und der hier gespannte Bogen ist beeindruckend und widmet sich auch selten dargestellten Energieformen wie jener der Geothermie - so gelangt man über die Bewertung von "Lösungskonzepten" zur Klimaproblematik (Kohlendioxid unterirdisch zu speichern, die Sonnenstrahlen mit Megareflektoren zurückzuschicken oder auch die Kernenergie werden auch von Gore korrekterweise nicht als nachhaltige Lösungen angesehen) zur Rolle der großen Kohlenstoffspeicher auf unserem Planeten: Wälder, Böden und Meere.

Beachtlich ist die Detailtiefe in den einzelnen Darstellungen, etwa die kritische und differenzierte Auseinandersetzung mit der Ökobilanz biogener Treibstoffe. Mit der Produktion von Bioethanol aus Mais etwa wird schonungslos abgerechnet. Moderneren Methoden der Biomassenutzung (Stichwort zweite Generation) stellt Gore jedoch zu Recht ein weit besseres ökologisches Zeugnis aus.

Jedenfalls sei nun genug geforscht worden, so sein Fazit, die Zeit zu handeln sei gekommen: "Wir haben bereits alle Beweise, die wir brauchen, um zu wissen, dass das Eingreifen des Menschen in das natürliche Klimagleichgewicht und in das Verhältnis zwischen Sonne und Erde enorme Risiken birgt ..." Und an anderer Stelle: "Anstatt uns damit aufzuhalten, auch noch die fünfte Stelle hinter dem Komma zu ermitteln, müssen wir vermitteln, warum wir genug wissen, um sofort zu handeln."

Die teilweise sehr wertvollen Schlussfolgerungen und Verdichtungen sind leider in den schlecht strukturierten Texten gut versteckt: Die wirtschaftliche Logik einer hohen CO2-Steuer als Technologiebooster wird ebenso schlüssig abgeleitet wie die Querverbindungen zu Klimaschutz und Artenvielfalt. Am treffsichersten ist Al Gore natürlich bei Analysen vor dem Hintergrund seiner US-amerikanischen Erfahrungen: "Die Vereinigten Staaten borgen sich nach wie vor Geld von China, um Öl vom Persischen Golf zu kaufen und es auf eine Weise zu verbrennen, die den Planeten zerstört", so seine nüchterne Analyse. Der frühere Vizepräsident geht - bei allen offenbar unvermeidlichen verbalen Bekenntnissen zum US-Patriotismus - mit seiner Heimat recht schonungslos um, wenn es darum geht, die brachliegenden Potenziale oder die zum Teil hoffnungslos überalterte Infrastruktur respektive den erbärmlichen Zustand der Gebäude Amerikas aufzuzeigen. Allein das veraltete Stromnetz kostet die USA jedes Jahr 206 Milliarden US-Dollar. Eine der Kernaussagen Gores ist demzufolge auch, dass die Lösungskonzepte zur Klimaproblematik zwar vielgestaltig, jedoch vollständig ausgearbeitet sind und zur sofortigen Umsetzung bereitstünden - und das mit klaren positiven ökonomischen Effekten. Eben nur für andere Industriezweige als jene, die vom derzeitigen Zustand profitieren, was politische Gestaltung notwendig macht.

Die große Stärke dieses Buchs liegt - und hier liefert Gore eine noch nicht gekannte Qualität der Darstellung - paradoxerweise in jenen Passagen, die sich Politikbereichen abseits der Klimathematik widmen und Wechselwirkungen zu dieser herstellen. Die Analysen zur Bevölkerungsentwicklung, zur Vernetzung der Energiewirtschaft, zur Kostenwahrheit und zur Rolle der Politik sind differenziert, bieten neue Perspektiven, erzeugen Spannung und verblüffen. Selten noch wurde etwa die Macht der Manipulation im Rahmen des öffentlichen Diskussionsprozesses so einprägsam dargestellt. "Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Klimaerwärmung glatt zu leugnen oder ins Lächerliche zu ziehen gehört zum Standardrepertoire von US-Nachrichtenmoderatoren, die sich an Wähler des rechten Spektrums wenden. Dies liegt einerseits an ihrer politischen Einstellung, andererseits aber auch am Anspruch an die Medien, die verschiedenen Standpunkte 'ausgewogen‘ darzustellen".

Gore nimmt in diesem Kapitel übrigens Anleihen bei David Michaels, einem führenden Berater der Clinton-Administration und auch der jetzigen Obama-Administration in Umweltfragen. Michaels Werk Doubt is their product widmet sich zur Gänze dieser Strategie, Theorien mit unseriösen Argumenten zu erschüttern, um so Unsicherheit zu erzeugen und Entscheidungsprozesse zu verlangsamen. Das österreichische Umweltministerium hat David Michaels vergangenen März zu einem umweltpolitischen Gedankenaustausch eingeladen, und auch Wir haben die Wahl lehnt sich stark an dessen Grundaussagen an.

Gore sieht in der Lösung der Klimakrise auch den zentralen Ansatzpunkt, entscheidend zur Entspannung der großen politischen Konflikte beizutragen und dabei gleichzeitig der prekären wirtschaftlichen Situation effektiv gegenzusteuern. Synergien zwischen den Bewältigungsstrategien werden klar dargestellt: "Zunächst glaubten viele, dieser plötzliche finanzielle Abschwung würde jeglichen Fortschritt beim Kampf gegen die Klimakrise zum Stillstand bringen. In Wirklichkeit jedoch ist die Beziehung zwischen diesen beiden Herausforderungen ganz anderer Art. Volkswirtschaftler fast aller Couleurs erkannten schon sehr früh die Notwendigkeit, mittels Staatsausgaben die Wirtschaft anzukurbeln. Die finanzielle Förderung von Großprojekten etwa, die auf Schaffung von Millionen Arbeitsplätzen zielte, hat die Entwicklung einer grünen Infrastruktur so beschleunigt, dass zugleich auch Lösungen für die Klimakrise vorangebracht wurden."

Die Übersetzung aus dem Englischen ist gut gelungen und vermittelt gekonnt den Ton der politischen Analyse. Während Gore in seinem Vorgängerwerk Eine unbequeme Wahrheit noch auf markante Darstellung und plakative Illustration Wert legt, zeigt Wir haben die Wahl genau in diesem Bereich eklatante Schwächen.
Die zahlreichen großformatigen Bilder und Schauzeichnungen tragen hier nichts zur Verbesserung bei, sondern stehen manchmal etwas isoliert und hilflos zwischen den dichtbedruckten Textspalten. In der Breite und Tiefe der Analyse jedoch ist dieses Werk absolut gelungen. Sollte sich der Verlag bei Gores nächstem Buch auch der Qualität der grafischen Darstellung entsprechend annehmen, darf man schon jetzt mit uneingeschränkter Vorfreude beginnen. (Thomas Jakl/ DER STANDARD, 5./6. 12. 2009)