Paul Haig: "Relive"
27 Jahre ist es mittlerweile her, dass der ehemalige Sänger der Postpunk-Pioniere Josef K mit einer Art elektronischer Seifenblase, nämlich einer ebenso unwahrscheinlichen wie schaumig-leichten Coverversion von Sly Stones "Running Away", seine Solo-Karriere begann. Was mehr oder weniger auch deren unerreichter Höhepunkt blieb. Diverse Alben, Stilexperimente und kommerzielle Fehlschläge sowie die komplett durchtauchten 90er später ist Paul Haig im neuen Jahrtausend wieder verstärkt aktiv geworden. Stand 2009: saucool. Sind Baritone sowieso meistens. In unverkennbarer Verwandtschaft zu New Order und dem Rest der Generation zwischen Wave und Rave semmelt uns der knapp 50-jährige Schotte ein Album rein, das einen mit den schnellen ersten Stücken ("Trip Out The Rider" und das programmatische "Relive") packt und nicht mehr loslässt. Alte Schule, gute Schule. Sehr gute Schule. (Rhythm Of Life/Hoanzl)

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Paul Haig

Coverfoto: Rhythm of Life

Sondre Lerche: "Heartbeat Radio"
Helden, die die Welt vergaß: Hat schon jemals zuvor jemand den armen George Lazenby besungen, der nie eine zweite Chance bekommen sollte 007 zu spielen? Sondre Lerche greift sich den One-Shot-Bond von 1969 als stilsichere Metapher fürs vergeigte Glück: Just like Lazenby / Can't I do it over? / Don't I get a second try? Aber leider leider: I'm not receiving you, oh my heartbeat radio. Lerche pflegt den Flirt zwischen Pop und Jazz und orientiert sich folgerichtig auch auf seinem fünften Studioalbum soundmäßig an der Mitte des 20. Jahrhunderts, als die beiden Genres noch so ziemlich eins waren. Und als der Rockabilly seine ersten Vorboten aussschickte. Herzbruchmusik ohne schmalziges Gecroone (dafür hätte der Norweger auch gar nicht die rechte Stimme), dafür schlank, gepflegt und seeehr skandinavisch. Erinnerungen an die Cardigans in ihrer "Carnival"-Phase mögen aufkommen, vor allem wenn das Kammerstreichorchester lustvoll die Gitarre anquietscht. Oh but wait till you hear the refrain on my heartbeat radio ... (Universal)

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Sondre Lerche

Coverfoto: Universal

Morrissey: "Swords"
Die entscheidende Frage ist nicht die, die jedes CD-Artwork aufs Neue aufwirft (nämlich warum Morrissey immer wieder Heterosexualität unterstellt wird), sondern diese: Warum soll man sich eine Compilation, deren Veröffentlichung dem betreffenden Künstler gar nicht so recht war, kaufen - noch dazu zur verdächtigen vorweihnachtlichen Rausverkaufszeit? Ganz eigennützig betrachtet deshalb, weil jeder Musiker so seine kreativen Aufs und Abs hat und B-Seiten und Unveröffentlichtes aus einer Auf-Phase die "offiziellen" Tracks aus einem Ab meistens schlagen. "Swords" beinhaltet - neben einer Live-CD von einem Konzert in Warschau - Songs aus den Jahren 2004 bis 2008. Von Glamrock über Beinahe-Kitsch bis zu Smiths-Anklängen ist da für jeden was dabei. Die bessere erste Hälfte, wo sich Ohrwürmer wie "Good Looking Man About Town", "Ganglord" oder "The Never-Played Symphonies" sammeln, gefällt mir ehrlich gesagt sogar besser als das im Frühling erschienene "Years of Refusal". - Und wer immer noch moralische Kaufbedenken hat, kann ja stattdessen mit dem Fleischessen aufhören. Das würde Morrissey sicher noch mehr freuen. (Polydor/Universal)

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Morrissey

Coverfoto: Polydor/Universal

[Ingenting]: "Tomhet, idel tomhet"
Isländische Bands - und die werden noch nicht mal im Rest von Skandinavien so richtig verstanden - hatten noch nie Bedenken in ihrer Muttersprache zu singen. Die Schweden waren da etwas beflissener und sangen entweder in Englisch oder produzierten englischsprachige Album-Versionen für den internationalen Markt. Die Arbeit macht sich heute kein Mensch mehr - und siehe da: Kent beispielsweise werden auf dem Kontinent immer noch gehört. Die sind auch gleich gar nicht der schlechteste Sound-Vergleich für [Ingenting], ein Sextett aus Stockholm. Nur dass die Kentsche Verzweiflung hier weitgehend fehlt; selbst wenn Sänger Christopher Sander im Schlussstück reuig die Flut auf sich herabbeschwört. Überhaupt ist spannend, weiviel Shingaling-Faktor ene Band einbauen kann, die sich selbst [nichts] nennt und ihren Alben Titel wie "Viel Lärm um nichts" oder jetzt eben "Leere, nichts als Leere" gibt. Allen Powerpop-Kaskaden zum Trotz ist die beste Nummer dennoch eine melancholische: "Blanka blad" ("Unbeschriebene Blätter"), ebenso einfach gehalten wie wunderschön. - Tja, so holt einen die Vergangenheit ein: Vor zehn, fünfzehn Jahren hab ich sowas paketweise in Stockholmer Plattenläden zusammengeramscht und nach Österreich importiert. Heute kommt's von ganz alleine an. (Labrador/Hoanzl)

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[Ingenting]

Coverfoto: Labrador

Annie: "Don't Stop"
Nun ist sie also heraußen: Die Platte, deren Veröffentlichung wieder und wieder und wieder verschoben wurde. Inzwischen haben andere Elektropop-Frolleins wie La Roux den Markt besetzt: Grund genug für Anne Lilia Berge Strand, mal kurz auf den Busch zu klopfen; immerhin war die Norwegerin schon vorher da. Ihr Comeback lässt sie daher von Jungle Drums und Hey Annie!-Sprechchören einklatschen - und dann wird erst mal losgeledert: My moves are better than your moves etwa oder That stuff you play / it sounds so passé / I don't like your band, your style, your sound. Und das alles ohne stimmlich jemals aus orgasmusnahen Höhenlagen herabzusteigen. Wir hören - neben der Gitarre von Alex Kapranos - kunstvolle Weiterentwicklungen von Soundbausteinen, die einst Namen wie Bananarama oder "Cinderella 80" getragen haben mögen. Oder auch - it's Disco time! - Donna Summer; "I Feel Love" taucht hier als I feel bad auf, als ein neuerliches Stildelikt zur Anklage gebracht wird. Oberflächlich betrachtet ließe sich "Don't Stop" als Bubblegum-Pop betrachten, aber wenn schon ein Süßspeisen-Vergleich, dann eher Baumkuchen: Mit geübter Hand wird Schicht über Schicht gelegt und zum Schluss eine Zuckerglasur obendrauf gegossen. Yummy! (Smalltown Supersound/Alive)

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Annie

Foto: Smalltown Supersound/Alive

Anajo: "Anajo und das Poporchester"
Anajo, das musizierende Vitamin aus Augsburg, haben sich mit Studierenden des Leopold-Mozart-Zentrums ihrer Heimatstadt für eine Extra-Frischepackung zusammengetan und servieren eine Kollektion aus bereits veröffentlichtem Songmaterial in knitterfreiem neuem Gewand. Das Schul-Crossover haben andere deutschsprachige Bands auch schon gemacht - dass Anajo und das Poporchester um soviel besser klingen, liegt an einem einfachen Kniff: Nicht pickige Streicherarrangements stehen hier im Vordergrund, sondern die Bläser. Zu bestaunen gibt's spielerische Adaptionen von Jagdhorngeblase ("I don't want to be a Landei"), Glenn Miller-Style ("Stadt der Frisuren") ... oder auch wie sich überraschend die "Ein Fall für Zwei"-Signation in "Ich hol dich da raus" einschmuggelt. Es flötet, dudelt, trötet und tutet - die pure Lebensfreude. Und "Jungs weinen nicht" lässt zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ahnen, wie jung The Cure noch waren, als sie den Song geschrieben haben. (Tapete/Hoanzl)

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Anajo

Coverfoto: Tapete

Benjamin Biolay: "La Superbe"
Kaum einer raunt sich so eindringlich unaufdringlich ins Ohr wie der Serge Gainsbourg unserer Generation. Wenn die Knef the greatest singer without a voice war, dann ist Benjamin Biolay the greatest voice without singing. Zu gedoppeltem Effekt im Sprech-Duett "Brandt Rhapsodie" mit Jeanne Cherhal. Atemberaubend, wie Biolay in Stücken wie "15 Aoút", "Ton Heritage" oder "Si Tu Suis Mon Regard" die Ära von PopArt-Chanson und Yéyé-Rock auferstehen lässt. Nicht ganz so toll, wenn statt der unvergleichlich eleganteren 60er die 80er heraufbeschworen werden und Saxophon und Winselgitarre darum wetteifern, wer den besseren Softporno-Soundtrack abgibt. Aber keine Angst, das nächste Theremin kommt bestimmt und die kinematographischen Assoziationen wechseln wieder auf höheres Gelände. Auf der zweiten CD des Doppelalbums orientiert sich Biolay dann stärker am Sound zeitgenössischer Pop- und Rockbands (das Chanson kann ja auch ein goldener Käfig sein), kehrt aber immer wieder zu seinen eigentlichen Stärken zurück. - Über eineinhalb Stunden Musik, die die vom Titel geweckten Hoffnungen vollauf erfüllt! (Naive/Lotus)

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Benjamin Biolay

Coverfoto: Naive

Choir Of Young Believers: "This Is for the White in Your Eyes"
Jannis Noya Makrigiannis aus Dänemark hat so diese Art zu singen, für die's im Englischen das schöne Wort "haunting" gibt. Und weil er stark in den Vordergrund gemischt wird (verglichen zum Beispiel mit den Landsleuten von Under Byen), fällt es schwer Choir Of Young Believers als Band wahrzunehmen. Was sie de facto auch nicht wirklich sind, eher ein Ensemble, das in wechselnder Kopfzahl Jannis die richtige Untermalung durch schwelgerischen Sound gibt. Stratosphärische Streicher- und/oder Synthesizerarrangements in Kombination mit Trommelwirbeln sind an dramatischer Wirkung jedenfalls kaum zu überbieten. Und wird zwischendurch mal für eine - ebenso dramatische - Pause innegehalten, dann nur um den Himmel danach wieder ganz weit aufzureißen. - So, zurück auf nüchtern. Hier die Anspieltipps: "These Rituals Of Mine" etwa und als Kontrastprogramm den unbeschwerten Beach Boys-Sound von "Action/Reaction". (Ghostly International/Hoanzl)

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Choir Of Young Believers

Coverfoto: Ghostly International

Jimi D.: "Fisherman's Son"
Der einzig "amerikanische" Beitrag in einer ausgesprochen eurozentrischen Playlist ... und auch der schlägt nicht wirklich als solcher zu Buche, weil Christopher Beer alias Jimi D. ebenso österreichische Wurzeln hat. Was das schräge marsianische Jodelmärchen "Kleiner Grüner Mann" am Ende des Albums allerdings eher persifliert als unterstreicht.  Jimi D. steht für Reggae, und glücklicherweise geht er dabei wesentlich entspannter zu Werke als so einige nervtötende Alpen-Toaster, mit denen einen FM4 zwingt, bei der Hausarbeit auf Ö1 auszuweichen (vielleicht ein subtiler Bildungsauftrag, wer weiß). Zu den verschiedenen Spielarten von Reggae gesellen sich auch Pop-Einflüsse (gut zu hören etwa in "Use My Oar/Karma Music"), und gemeinsam mit der ausgesprochen friedlichen Grundstimmung des Albums gibt das den sonnigsten Kontrast zur aktuellen Jahreszeit, der sich überhaupt nur  denken lässt. Album-Präsentation am 10. Dezember im Grazer PPC! (King Kanu)

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Jimi D.

Coverfoto: King Kanu

Get Back Guinozzi!: "Carpet Madness"
Eine Band, die die B-52's und die Slits zu ihren Einflussquellen zählt und dann sogar mit Viv Albertine Konzerte gibt, hat schon mal grundsätzlich einiges richtig gemacht. Den Kern der Band macht das Duo Eglantine Gouzy (Gesang) und Fred Landini (Instrumentarium) aus: Beide aus Frankreich, sie lebt allerdings in England - das Debütalbum der beiden ist daher hauptsächlich im elektronischen Datenverkehr zustande gekommen. Erstaunlicherweise hört man es ihm kaum an. Stellen wir uns vor, Pizzicato 5 wären per Zeitmaschine ins Jahr 1980 gebeamt worden und hätten ihr pop-historisches Repertoire an der New Wave statt am Dancefloor ausprobiert: Heraus kommt eine quirlige, stets etwas schräge und sehr charmante Mischung aus Pop, Electro, Dub und Karibik-Sound; und Eglantine tiriliert dazu ihr eigenes Ding. Da es - mit Ausnahme vielleicht von "Go Back to School" und dem Cover von Junior Murvins Reggae-Klassiker "Police and Thieves" - wenig prägnante Refrains gibt, bleibt letztlich wie bei einem Traum nur eine vage Erinnerung an die "Carpet Madness" im Gedächtnis haften. Aber es war schön, solange es anhielt. (Fatcat/Hoanzl)

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Get Back Guinozzi!

Coverfoto: Fatcat