Miriam (96, hier mit dem Enkel) ist die Witwe des verstorbenen Fotografen Rudi Weissenstein, der viele historische Ereignisse Israels dokumentierte und in dessen Fotostudio alle Regierungschefs Israels posierten.

Foto: Igal Avidan

Eine junge Frau flaniert entlang der Allenby-Einkaufsmeile im Zentrum Tel Avivs. Sie ist sehr schick in einem leichten, taillierten Sommerkleid mit einem weißen Kragen und dazupassenden weißen Schuhen. In der Hand hält sie eine modische schwarze Tasche. Die junge Frau lächelt selbstbewusst in die Kamera, sie scheint verliebt zu sein in ihren großen, schlanken Begleiter, der ebenfalls eine elegante Sommerhose, ein kurzes Hemd und weiße Schuhe trägt und in der Hand ein in Papier gewickeltes Geschenk hält. Er wirkt ein wenig verlegen, vielleicht weil er seine ersten Schritte in seiner neuen Heimat macht oder weil er lieber selbst hinter der Kamera stehen würde.

Über 70 Jahre später zeigt Miriam Weissenstein auf ebendieses Bild und verkündet stolz: "Auf dieser Straße habe ich meinen künftigen Mann Rudi kennengelernt. Das war Liebe auf den ersten Blick" . Jeden Morgen sitzt sie daher im kleinen Fotoladen Zalmania Pri-Or in der gleichen Allenby-Straße und verwaltet den Nachlass ihres Mannes, des berühmten Fotografen Rudi Weissenstein: einen Fotoschatz in Schwarz-Weiß, die Geschichte Tel Avivs und Israels.

Miriam Weissenstein ist einer der wenigen Menschen, die fast so alt sind wie die Stadt, in der sie leben. Mit 96 Jahren ist sie immer noch aufmerksam und neugierig. "Wer zum ersten Mal zu ihr kommt, ist von ihr sofort fasziniert, vor allem von ihrem Alter, aber auch von ihrem Humor und klaren Denken" , sagt ihr Enkelsohn Ben Peter. "Sie ist zwar schwerhörig, aber neugierig und geduldig" . Ben hilft ihr mit dem Hörgerät, ihre philippinische Pflegerin Leti holt einen Bildband von Rudi, denn "eine Reportage über mich ohne Bilder - das ist nichts!", wie sie in fließendem Deutsch verkündet.

Dieses Tel Aviv ist lauter Sand

Nun beginnt eine Zeitreise. Tel Aviv existierte erst seit 22 Jahren und die Allenby-Straße seit acht Jahren, als Miriam Weissenstein, Rudis Witwe, 1921 mit ihren Eltern aus der Tschechoslowakei in die Mittelmeerstadt kam. "Meine Mutter wollte weg wegen des wachsenden Antisemitismus. Sie ließ nicht nach, bis mein Vater nach Tel Aviv reiste. Nach seiner Rückkehr berichtete er: "Dieses Tel Aviv ist lauter Sand. Da gibt es viele Kamele, aber Pferde gibt es nicht" . Der Fabrikant musste dennoch seiner Frau und sechs Kindern folgen und ein neues Leben in den Sanddünen beginnen.

Nur 3000 Menschen lebten damals im Dorf Tel Aviv, das sich die erste hebräische Stadt nannte. 15 Jahre später, als Rudi Weissenstein (ebenfalls aus der Tschechoslowakei) kam, war die Stadt bereits eine Metropole mit 130.000 Juden, darunter viele, die nach Hitlers Machtergreifung aus Deutschland geflohen waren. Das Angebot seines Vaters, in seiner Fabrik zu arbeiten oder ein Hotel in der Schweiz zu leiten, lehnt der begeisterte Zionist ab. Er studiert Fotografie an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien und arbeitet als Fotograf für die Prager Zeitung, bevor er Silvester 1935 Europa verlässt.

Mit Miriam, die er bald darauf in Tel Aviv trifft, spricht er Deutsch. Auch sie studierte in Wien - an der Staatsakademie. Bereits ein Tag nach ihrer ersten Begegnung fahren Rudi und Miriam nach Galiläa. Rudi fotografierte, und Miriam half, die Kameras zu tragen.

Sie arbeiten viel, finden aber immer auch Zeit für Konzerte und Opern. Seine Helden sind Dietrich Fischer-Dieskau, Heinrich Heine und Thomas Mann. 1940 feiern sie ihre Hochzeit im Kaffeehaus Aschermann an der Allenby-Straße - und Rudi wird Partner im benachbarten Fotoladen.

Die britischen, australischen und kanadischen Soldaten verbringen ihren Urlaubstag in den preiswerten Hotels am Ende der Allenby und brauchen Fotos für ihre Freundinnen und Familien in der Heimat. Sie kommen zu Rudi.

Auf dem kleinen Tisch präsentiert Miriam stolz eines der beiden Fotoalben mit Aufnahmen ihres Mannes, die sie in den letzten Jahren veröffentlichte - auf Hebräisch und Englisch. Ein junger Pionier mit kurzen Hosen, einem weißen Unterhemd und runden Brillen erntet Getreide in einem Kibbutz. Menschen am Strand empfangen illegale Einwanderer. Kinder schauen fasziniert in die Voliere im Tel Aviver Zoo, den es heute nicht mehr gibt. Der Zug, der die Allenby-Straße überquert, eine Strecke, die bereits 1948 stillgelegt wurde. Oder das Art-déco-Lichtspielhaus Mograbi, vor dessen Kasse ein aus Wien eingewanderter Opernsänger Wiener Würstel mit Senf und Semmeln verkaufte. Heute ist dort ein offener Parkplatz.

Das Israel, das man im kleinen Fotoladen findet, ist ein Land, nach dem sich viele Israelis heute sehnen. Die Landschaften sind noch so unberührt wie in biblischen Zeiten, die Bauhaus-Gebäude der Weißen Stadt glänzen. In manchen Fotos erkennt man das Gebäude oder Straßenzüge und vergleicht es mit dem heutigen. Die Straßen sind sauber und relativ leer, ein oder zwei schwarze Autos, einige Radfahrer und mehrere Passanten. Die Menschen sind um vieles eleganter als heute: Die Männer tragen einen Hut oder eine Mütze, die Frauen immer ein Kleid. Sie wirken bescheiden, aber idealistisch und glücklich.

Sie alle posierten hier

Von der Wand der Zalmania hinter der Theke blicken Israels Regierungschefs hinunter: Golda Meir, Menachem Begin, David Ben Gurion, Yitzhak Rabin als junger Offizier und Shimon Peres. Sie alle posierten im kleinen angrenzenden Studio, weil es hieß, wer in Rudis Schaufenster steht, gewinnt die Wahlen.

Miriam schminkte sie und half ihnen, ordentlich auszusehen. Rudi Weissenstein wurde zum "Promifotografen" , denn er war diskret, höflich, freundlich und zuverlässig. So konnte er oft historische Ereignisse dokumentieren: Die Einweihung des Hafens von Tel Aviv und das erste Konzert der Philharmonie 1936, die Massen, die 1947 die UN-Resolution zur Gründung eines jüdischen Staats feierten, der zerstörte arabische Stadtteil Manshije 1948. Durch seine guten Kontakte erhielt er die begehrte Einladung, an jenem Freitagnachmittag elegant im Tel-Aviv-Museum zu erscheinen und den Anlass geheim zu halten. An jenem 15. Mai 1948 machte er sein berühmtestes Foto: David Ben Gurion in Anzug und Krawatte proklamiert im Tel-Aviv-Museum den Staat Israel.

1992 verstarb Rudi Weissenstein und hinterließ eine Viertelmillion Negative, in Holzschubladen geordnet und bis heute für jeden zugänglich. Seine Witwe Miriam beschloss, seine Werke als Bildbände zu veröffentlichen und bat daher 2003 ihren Enkelsohn Ben, im Fotogeschäft mitzuhelfen. Gemeinsam organisierten sie zwei sehr erfolgreiche Ausstellungen, und zum 100. Jubiläumsfest Tel Avivs feierte die 96-jährige Miriam zusammen mit Tausenden auf dem Rabin-Platz, fotografierte die Massen und schaute begeistert auf die Leinwände, auf denen die Bilder ihres Mannes gezeigt wurden.

Aber die Freude mischte sich mit großen Sorgen. Bald wird es den schönen Fotoladen vielleicht nicht mehr geben. Ein Investor erwarb das zweistöckige Gebäude mit dem historischen Laden, der nicht unter Denkmalschutz steht. Er will es abreißen lassen, um ein sechsstöckiges Gebäude mit Ferienwohnungen bauen. Die zahlreichen Touristen, die auf dem Weg zum oder vom Strand vor dem Schaufenster anhalten, Rudis Kurzbiografie lesen und zum Teil auch die Schwelle von Miriams 42-Quadratmeter-Imperium betreten, interessieren ihn nicht.

Nachdem die Stadtverwaltung eine Abrissgenehmigung erteilte, reagierten Miriam und Ben: Sie sammeln Unterschriften dagegen und mobilisieren einige Stadtratsverordnete und renommierte Architekten. Nach langem Streit durften sie bei einer Sitzung des Denkmalausschusses ihr Anliegen vortragen - fünf Minuten lang. "Ich habe vor lauter Aufregung die ganze Nacht nicht geschlafen" , sagt Miriam.

Der Ausschuss kann den Neubau zwar nicht mehr verhindern, erkennt jedoch die Zalmania als einen Kulturschatz Tel Avivs an und empfiehlt, den historischen Fotoladen in den Neubau zu integrieren. Ob und wann Miriam Weissenstein umzieht, ist noch unklar. Aber wenn die alte, lebendige Dame Zuversicht sucht, denkt sie an das Zitat aus Goethes Faust, das Rudis Grabstein auf seinen Wunsch hin schmückt: "Ihr glücklichen Augen / Was Ihr je gesehen / es sei wie es wolle / Es war doch so schön." (Igal Avidan, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 28./29.11.2009)