Am Abend vor seinem Abflug nach Itschihara in Japan, wo er nun als Trainer von JEF United arbeitet, gab Ivica Osim dem ballesterer fm ein Interview. Im Gespräch mit Kerstin Kellermann und Klaus Federmair philosophiert er über das alte Jugoslawien, Fußball, Krieg und Sozialismus.

"Ein Rücktritt ist wohl das Endgültigste, das es gibt. Ich werde nicht zur Europameisterschaft fahren. Dies ist eine private Geste und Sie können sie deuten, wie Sie wollen. Ich werde sie nicht erklären. Zurückzutreten ist das Einzige, was ich für diese Stadt tun kann. Damit Sie sich erinnern, dass ich in Sarajewo geboren worden bin. Sie wissen, was dort geschieht."

(Ivica Osim auf einer Pressekonferenz in Belgrad am 22. Mai 1992)

Ende April 1992 reiste Ivica Osim mit seinem Sohn Zelimir von Sarajewo nach Belgrad, wo er als Trainer der Nationalmannschaft die erfolgreiche EM-Qualifikation gerade hinter sich und mit Partizan den Cupsieg unmittelbar vor sich hatte. Europameister sollten später nach dem Ausschluss Jugoslawiens die nachgerückten Dänen werden. Ein paar Tage nach jenem schicksalhaften Flug nach Belgrad hagelte es Granaten auf Sarajewo. Seine Frau Asima und seine Tochter Irma wurden durch den Krieg vier Jahre von ihm getrennt. Ivica Osim entschloss sich zum Rücktritt als jugoslawischer Teamchef. Die öffentliche Erklärung, die er dazu abgab, spiegelt seine Sichtweise der jugoslawischen Tragödie eindrucksvoll wider. Auf die allgegenwärtigen Konflikte zwischen den Nationalitäten und Religionen wollte er nicht einmal eingehen, so fremd waren ihm diese Kategorisierungen. Elf Jahre später schwingt Resignation in Osims Worten mit. Die Bundesrepublik Jugoslawien hat am 4. Februar 2003 auch formal zu existieren aufgehört, der Teamchef-Posten in seiner bosnischen Heimat bleibt für alle Beteiligten vorerst nur ein schöner Traum. Und die Neue Weltordnung wird weiterhin von Gewalt dominiert. Was bleibt, sind ein mehr oder weniger stiller Protest, ein uneigennütziges Engagement für den bosnischen Fußball-Nachwuchs - und ein Trainerjob bei JEF United in Japan.


ballesterer fm: Herr Osim, Sie waren der letzte Nationalteamtrainer des sozialistischen Jugoslawien. Gibt es für Sie eine Verbindung zwischen Sozialismus und Fußball?

Osim: Armut gehört zum Sozialismus und zum Fußball. Zumindest war das früher so. Der Fußball war am Anfang immer arm, die Spieler waren es jedenfalls. Die Armen spielten aus praktischen Gründen Fußball. Ein Ball, wenig Platz, viele Spieler – Sozialismus gehörte immer dazu. Ideal wäre ein echter, aber utopischer Sozialismus, in dem alle gut leben können. Wenn man heute eher das Wort »sozial« als »sozialistisch« verwendet, dann heißt das mehr oder weniger, dass man jemandem helfen muss. Durch das Wort »Sozialismus« erhielt man immer den Eindruck, dass bestimmte Menschen altruistischer wären als andere.

ballesterer fm: Kam der Krieg in Jugoslawien für Sie überraschend?

Osim: Ja. Vielleicht war ich schlecht informiert. Aber es ging vielen ähnlich wie mir. Wir konnten nicht glauben, dass so etwas passieren würde. Es gab ein paar, die wussten es. Die haben den Krieg vorbereitet, und die waren dann selbst bereit zum Krieg. Aber das waren nicht viele. Wenn man jetzt analysiert, was passiert ist, dann kann man sagen: Wir haben nicht bemerkt, was da passiert, worum es überhaupt geht. Und jetzt ist das alles leider Geschichte. Da hilft nichts mehr. Die Wunden sind geblieben, und sie werden immer bleiben, noch grausamer als früher. Es ist schwer, das alles zu vergessen. Mit jedem Jahr nach dem Krieg erhält man mehr Informationen, mehr Fakten darüber, warum es zu diesem Krieg gekommen ist, wie viele unschuldige Menschen getötet wurden, was alles zerstört wurde ... es ist wirklich traurig.

ballesterer fm: Was waren für Sie aus heutiger Sicht die Gründe?

Osim: Die Gründe kennen wir mittlerweile mehr oder weniger alle. Möglicherweise konnte man erwarten, dass Jugoslawien getrennt wird, aber auf elegante Weise – eine Trennung wie bei den Tschechen und Slowaken zum Beispiel. Viele Länder haben gezeigt, wie das geht. Bei uns war es, wie immer in unserer Geschichte, gefährlich. Es ist ja nicht neu, dass es durch die zwei großen Gruppen – Kroaten und Serben – und dazu die Muslime eine latente Gefahr in dieser Region gab. Aber in unserer modernen Zeit konnte man mit so etwas nicht rechnen. Europa hätte uns auch viel mehr helfen können. Die ganze Hilfe, das Geld, das für die Flüchtlinge gegeben wurde – das wäre alles nicht nötig gewesen, wenn Europa früher agiert hätte. Aber Europa hat eben nicht reagiert. Vielleicht haben sie es auch verschlafen, vielleicht nicht damit gerechnet, dass so etwas passieren kann. Irgendwann war es zu spät und die Entwicklung nicht mehr zu bremsen. Aber Europa hätte die Macht gehabt, den Krieg zu stoppen. Sie haben nicht alle Toten »genützt« - sozusagen. Ich frage mich inzwischen auch, ob nicht irgendwem in Europa dieser Krieg ganz recht gekommen ist. Aber das sind Sachen, die können gefährlich sein. Ich glaube, nach jedem Krieg braucht man eine gewisse Zeit, um die wirklichen Gründe und Tatsachen kennen zu lernen. Jetzt ist es noch zu früh.

ballesterer fm: Wurde der Fußball für den Nationalismus verwendet?

Osim: Fußball ist etwas ganz anderes und nicht nationalistisch. Ich glaube noch immer, dass die, die mit dem Fußball verbunden sind – egal welche Hautfarbe oder Religion sie haben – anders sind. Ich glaube, dass Fußball für sich selbst eine kleine Religion ist. Eine Religion, in der es viel mehr Respekt und Toleranz gibt als bei den anderen Religionen. Viele Politiker könnten einiges von Fußballspielern lernen. Fußballspieler sind sehr populär, und manche wurden manipuliert von den Politikern. Die Manipulation war überhaupt sehr groß.

ballesterer fm: Sie haben gesagt, die Politiker könnten viel von den Spielern lernen in Bezug auf Verständigung und Toleranz. Wie ist das mit dem Publikum? Wenn Sie sehen, wie es auf den Rängen zugeht in Buenos Aires oder Glasgow, manchmal auch in Graz oder Wien, erinnert Sie das nicht auch eher an Krieg als an Verständigung?

Osim: Ich glaube nicht, dass daran die Spieler schuld sind. Das hat wieder mehr mit Politik zu tun. Die Spieler leiden unter solchen Situationen. Die Spieler sind nur da, um Fußball zu spielen. Natürlich brauchen sie das Publikum. Sie wollen es bei der Stange halten, sie leben für das Publikum. Das Publikum ist die wichtigste Quelle bei der ganzen Geschichte. Finanziell deckt es zwar nicht mehr den ganzen Aufwand, aber nur ein volles Stadion bekommt auch Sponsoren usw. Im Stadion hat man zwei verschiedene Gruppen in zwei Farben. Wenn es nun, wie in Glasgow, auch noch zwei verschiedene Religionen gibt, dann nützen die Politiker das erst recht aus. So ein religiöser oder ethnischer Faktor kommt aber nicht von heute auf morgen. Das geht über Generationen, diese Konflikte zwischen zwei Gruppen gab es meistens schon, bevor sie begannen, Fußball zu spielen.

ballesterer fm: Das heißt, es ist nicht die Verantwortung des Fußballs. Tragen die Fans auch keine Verantwortung?

Osim: Sicher tragen sie Verantwortung. Aber immerhin sind sie im Stadion unter Kontrolle, durch getrennte Sektoren, Polizei usw. Vielleicht ist es besser sie machen ... – naja, kleine Kriege im Stadion, ohne körperlichen Kontakt, wo sie hauptsächlich schimpfen und schreien. Das ist besser als wenn sie sich auf der Straße bekämpfen. In dem Fall beherrscht der Fußball das Geschehen immer noch viel besser als es im Alltagsleben der Fall ist.

ballesterer fm: Wie war das in Jugoslawien vor dem Krieg?

Osim: Es gab immer wieder kleinere Ausschreitungen. Das war immer so, aber das gehörte dazu. Für uns Spieler und Trainer war das normal. Niemand machte sich besondere Gedanken. Wenn man so etwas ausnützen will, um einen Krieg zu führen oder auch nur die Ursache des Kriegs darauf schieben will, dann ist das falsch. Aber das wurde in Jugoslawien manchmal gemacht.

ballesterer fm: Als Sie noch spielten, in Sarajewo zum Beispiel, waren die Mannschaften da ethnisch gemischt?

Osim: Was heißt gemischt? Es waren einfach europäische Mannschaften, und die Spieler wechselten, genau wie in Österreich, öfter den Verein. Fast niemand dachte darüber nach, wie jemand heißt oder welcher Religion er zugehörig war. Die Qualität war das Wichtigste. Ob ein Klub mehr oder weniger Spieler aus Bosnien kaufte, das war wieder eine andere Geschichte. Die großen jugoslawischen Klubs hatten jedenfalls überhaupt keine Probleme damit, Bosnier zu engagieren oder Serben, Kroaten, Slowenen. Natürlich gibt es immer Leute, die zuerst an den Namen, also die ethnische Zugehörigkeit, denken. Aber fast immer stand die Qualität im Mittelpunkt.

ballesterer fm: Und wie ist das heute, nach dem Krieg?

Osim: Während des Kriegs und unmittelbar nach dem Krieg waren die Differenzen in Bosnien zu groß. Die anderen Länder hatten da ja weniger Probleme. Aber auch in Bosnien kaufen jetzt die Vereine aus den bosnischen Gebieten Spieler aus den kroatischen Teilen, und auch die Serben beginnen wieder zu spielen. Da ist schon vieles besser geworden.

ballesterer fm: Gab es während des Kriegs in Bosnien eine reguläre Meisterschaft?

Osim: Wo kann man spielen, wenn alles bombardiert wird? Sarajewo war in einer Situation, in der Kinder keine Spieler werden konnten. Die Spieler sind ins Ausland gegangen, die Kroaten nach Kroatien, die Serben nach Serbien. In Bosnien war das unmöglich. Man kann nicht mit sich selbst eine Meisterschaft machen.

ballesterer fm: Stimmt es, dass ein Stadion in Sarajewo zum Friedhof umfunktioniert wurde?

Osim: Nein, das war ein komplettes Trainingszentrum mit ein paar Trainingsplätzen. Sie hatten einfach keinen Platz mehr. Auf die anderen Friedhöfe konnte man sowieso nicht gehen, weil es offene Plätze waren, die beschossen und vermint wurden. Das war leider so. Viele Gräber waren auch mitten in der Stadt, weil es anders nicht mehr ging. Auf einen normalen Friedhof zu gehen, war praktisch unmöglich.

ballesterer fm: Das Trainingszentrum ist wahrscheinlich noch immer ein Friedhof?

Osim: Ja, natürlich.

ballesterer fm: Gab es für die Kinder die Möglichkeit, sich irgendwo mit Fußball vom Krieg abzulenken?

Osim: Es gab eine große Halle aus Beton, die sicher war. Aber die Olympiahalle war schon zu Kriegsbeginn nicht mehr zu benutzen. Die wurde gleich beschossen und zerstört. Die kleinen Kinder konnten höchstens in einer sicheren Halle oder im Haus spielen. Aber wenn sie draußen spielten, passierte es oft, dass sie von oben beschossen wurden. Da gab es viele Tote. Das war das Grausamste, was man sich vorstellen kann. Kinder waren in der Schule und gingen hinaus zum Spielen, und dann wurden sie erschossen.

ballesterer fm: Sie haben gesagt, Sie wollen jetzt nicht bosnischer Teamchef werden, weil der Posten zu politisch sei. Wie meinen Sie das?

Osim: Ich habe etwas anderes gesagt. Ich dachte, möglicherweise könnte ich irgendwann zurückkommen und den Posten übernehmen. Aber ohne Bezahlung. Die politische Situation ist jedoch noch immer problematisch. Vielleicht erwartet man von mir, dass ich die Integration besser oder schneller umsetzen kann als andere. Andererseits ist es schwer, wenn einzelne Spieler das Nationalteam boykottieren. Besonders problematisch ist eine Sache, die ich schon vom jugoslawischen Team her kenne: Die Medien fordern immer Spieler aus der eigenen Region. Dann muss man immer denken, wie jemand heißt, welche Religion er hat, wie viele solche Spieler es schon gibt.

ballesterer fm: Angenommen, die Situation normalisiert sich und Sie müssten keine Rücksicht mehr auf ethnische Zugehörigkeit und Religion nehmen: Würden Sie dann bosnischer Teamchef werden wollen?

Osim: Ja. Aber das wird für mich schon zu spät sein ...

ballesterer fm: Hätten Sie sich gefreut, wenn Kroatien und Bosnien die Europameisterschaft 2008 statt Schweiz und Österreich bekommen hätten?

Osim: Es wäre schön gewesen, aber man muss realistisch sein. Diese Veranstaltungen bekommen meistens die, die Sicherheit und Geld garantieren können. Man müsste alles von Grund auf neu bauen, und das kostet. Ökonomisch und politisch wäre es möglicherweise sehr elegant und schön, aber wir alle kennen Europa ...

ballesterer fm: Denken Sie zur Zeit auch an den Irak-Krieg? Wie bei den jugoslawischen Kriegen reden jetzt auch wieder manche von einem angeblichen Kampf der Kulturen im Nahen Osten.

Osim: Kampf der Kulturen? Normalerweise kämpfen Kulturen nicht. Deshalb sind sie Kulturen: weil sie keine Kriege führen. Ich bin persönlich gegen den Irak-Krieg, das ist keine Frage! Das heißt: wenn das überhaupt ein Krieg sein kann. Kriege gibt es normalerweise nur zwischen zwei halbwegs ausgeglichenen Gegnern. Wir wissen ja alle mehr oder weniger, worum es in diesem »Krieg« geht. Und Europa sagt wieder nichts, die ganze Welt reagiert sehr zurückhaltend. Ich frage mich, worauf wir da zusteuern ... Es ist schön, dass viele protestieren. Aber es protestieren nur die, die keine Macht haben. Die Mächtigen, die etwas sagen könnten – und müssten, die artikulieren sich nicht. Warum muss diese so genannte (Welt-) Kugel immer mit solchen Sachen leben? Es könnte so viel ruhiger sein. Falls es diese Probleme überhaupt gibt, könnte man die ohne Krieg lösen. Diese Kugel hat schon genug Probleme, und langsam könnten wir beginnen nachzudenken, wie wir mit einander besser zusammenleben können. Ich frage mich: Bekommen die nicht langsam Kopfschmerzen vom ständigen Kriegführen?

Ballesterer fm: Sie werden die nächste Zeit in Japan verbringen. Erinnert Sie die japanische Kultur mit dem stark verwurzelten Kollektivismus an Jugoslawien, wo Sie aufgewachsen sind?

Osim: Ja, klar. Fast überall gibt es die Schwierigkeit, kollektiv zu agieren. Nur die Japaner haben eher das Problem, dass sie zu sehr auf das Kollektiv schauen. Manchmal agieren die Spieler in Japan zu wenig individuell oder egoistisch. Die Frage ist: Wie viel können die Individualisten zum Kollektiv beitragen? Ich denke jetzt an Fußball, aber was für das Leben allgemein gilt, gilt auch für den Fußball. Wenn eine europäische Mannschaft einen kollektiven Fußball spielt, ist das sehr schön anzusehen. In Japan passiert es vielleicht öfter, dass niemand die Verantwortung übernimmt. Das muss man eben auch lernen, weil man nicht alle Situationen durch das Kollektiv lösen kann. Und trotzdem: Manchmal entscheidet ein Individualist das Spiel, aber irgendwann scheitern auch die besten Individualisten. Deshalb spielt auch Real Madrid einen kollektiven Fußball. Ob die japanischen Spieler das verstehen werden, das weiß ich jetzt natürlich noch nicht.

Ballesterer fm: Viel Glück in Japan. Wir hoffen, Sie auch in Österreich wieder zu sehen.

Osim: Jaja, ziemlich sicher.


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