Pfaller: mehr Mobilität durch mehr Freiraum

Foto: Standard/Peter Philipp

Christian Flecks Suche nach den "blinden Flecken" des Audimaxismus in seinem Plädoyer für das Bologna-Curriculum (Kommentar der anderen, 19.11.) hat etwas nicht Unkomisches an sich. Sein Verdienst besteht aber darin, jene Prinzipien nochmals explizit auszusprechen, welche die Universitätspolitik der letzten 15 Jahre geprägt und zum aktuellen Desaster geführt haben. Er benennt, wenn auch zustimmend, genau die Fehler im System, und es werden sich außer Christian Fleck vielleicht bald kaum mehr Menschen finden, die offen zugeben, an diese Prinzipien jemals geglaubt zu haben. Fleck schreibt:

1)"Ein Studienprogramm hilft jenen, deren Eltern ihnen kein oder nicht ausreichend kulturelles Kapital mit auf den Weg gegeben haben."

2)"Ein freies Studium ist in Massenuniversitäten schlicht unmöglich."

3)"Die Universitäten für mehr Studierende zu öffnen kann nur funktionieren, wenn diese Massen in geregelte (Ausbildungs-)Bahnen gelenkt werden."

Realität auf den Kopf gestellt

Nun, These 1 ist oft behauptet, aber nie bewiesen worden. In mehr als 15 Jahren universitärer Lehrtätigkeit an einem Dutzend in- und ausländischer Universitäten ist mir selbst zum Beispiel kein einziger Fall eines Studierenden untergekommen, auf den dieses Prinzip zugetroffen hätte. Kein(e) Studierende(r) ist so bildungsfern, dass es ihm bzw. ihr nützt, alles vorgeschrieben zu bekommen.

Im Gegenteil: Genau dadurch, dass man nicht zulässt, dass die Studierenden sich mit der Frage auseinandersetzen, was sie eigentlich wissen wollen, zerstört man den wichtigsten Teil ihres Wissenserwerbs, die Erprobung von Selbständigkeit, und ihre Motivation. Wer Struktur braucht, dem kann man Empfehlungen geben. Aber in Form von Betreuung, nicht von Vorschriften. Die Programme, die den Studierenden alles vorschreiben, werden von ihnen zu Recht als Bevormundung empfunden. Mit solchen Programmen behandelt man sie wie Kinder; und so etwas hat immer Auswirkungen: entweder sie fangen an, sich wie Kinder zu benehmen, und gehorchen stumpf; oder sie reagieren wie Erwachsene und streiken.

These 2 ist schlicht falsch. Es ist genau umgekehrt: Je größer die Zahl der Studierenden, desto wichtiger ist es, dass sie mit größter Autonomie studieren. Denn umso weniger kann man sie individuell beaufsichtigen (und eine repressive Prüfungsordnung kann das erst recht nicht. Sie führt nur dazu, dass Studierende aufgrund von Terminkollisionen um ihre Stipendien umfallen.). Darum ist es wichtig, dass die Studierenden sich in Lektüregruppen, Diskussionsforen, Tutorien etc. organisieren können, um dadurch den von ihnen besuchten Lehrveranstaltungen erst Substanz zu verleihen. Die beeindruckenden Formen von Selbstorganisation und kollektiver Selbstverständigung, die während des Streiks zutage getreten sind, haben gezeigt, in welch hohem Maß Studierende heute dazu in der Lage sind.

These 3 ist ebenso verkehrt: Denn genau dadurch, dass die studierenden Massen in Bahnen gelenkt wurden, hat man diese Bahnen verstopft. Aggressiv-wohlmeinende Bürokraten haben ihnen den Besuch unzähliger Lehrveranstaltungen vorgeschrieben, so als ob sie nur dort etwas lernen würden. Heute müssen durchschnittliche Bachelor-Studierende 20 Stunden pro Woche im Hörsaal sitzen.

Zu einer Zeit, als es noch keine Studienprogramme und Curricula gab und man gerade deshalb sehr gut studieren konnte, wie u.a. der dem Fleck-Plädoyer in der gleichen Ausgabe des Standard gegenübergestellte Kommentar von Karl Svozil belegt, hat man in einem erfüllten Semester vielleicht ein Seminar und zwei Vorlesungen besucht, also etwa sechs Stunden im Hörsaal verbracht. Denn die entscheidenden Studienleistungen wurden außerhalb erbracht; in den selbstorganisierten, begleitenden Lektüregruppen, wo man die gesamte Literatur zum Seminar las, studierte und diskutierte - und dies übrigens vor allem auch in den Semesterferien, die meist die größten Lektüre- und Wissenszuwachsschübe mit sich brachten. Die verschulten Programme hingegen haben die Hörsäle verstopft und die Möglichkeiten des autonomen Wissenserwerbs verdorben.

Pragmatische Lösung

Darum muss jetzt, gerade angesichts knapper Ressourcen, ein universitäres Notprogramm zumindest für alle Kultur- und Geisteswissenschaften eingerichtet werden: Alle Studienpläne werden außer Kraft gesetzt und haben ab sofort nur noch empfehlenden Charakter. Verpflichtende Abschlussvoraussetzungen sind lediglich eine Abschlussarbeit und eine kommissionelle Prüfung. Und alle Ressourcen müssen, anstatt in Prüfungen oder ins Berichtswesen, in die Lehre gehen.

Die Misere der Universitäten rührt nämlich in hohem Maß auch daher, dass seit den 90er-Jahren die Zahl der Lehraufträge an externe Lehrbeauftragte um 70% reduziert worden ist. Damit ist nicht nur ein großer Teil des Lehrangebots verlorengegangen, sondern auch eines der innovativsten Elemente universitärer Forschung und Lehre. Stattdessen mussten die Mittel in die vom Ministerium geforderten aufwändigen Bologna-Implementierungs- und Berichterstattungsprozeduren investiert werden. Die vielen dafür angestellten Ressourcenschlucker aber müssen nun wieder schleunigst entlassen und an ihrer Stelle Lehrbeauftragte an die Unis geholt werden.

Mithilfe eines solchen Notprogramms lassen sich jene beiden Forderungen, die den streikenden Studierenden als Widerspruch bzw. als utopische Naivität oder blinder Fleck vorgeworfen wurden, sehr gut erfüllen: nämlich sowohl offener Hochschulzugang als auch bessere Studienbedingungen. Es können dann mehr Leute studieren als derzeit; sie können sinnvoller, mit größerem Erkenntnisgewinn studieren, der sie auch sehr viel besser für ein veränderliches Berufsfeld qualifiziert, das in erster Linie nach Selbständigkeit verlangt; und sie müssen nicht um Sitzplätze im Hörsaal streiten.

Und es gäbe weitere Vorteile: Auch die Studierendenmobilität zum Beispiel, die durch die Verschulung und Bürokratisierung (ECTS) massiv behindert wurde, würde wieder in vollem Ausmaß möglich. Sinnvoll im Ausland studieren kann man nämlich nur dann, wenn es im heimischen Studium große Freiräume gibt, in denen man keine Prüfungen absolvieren muss. Soviel zu einem pragmatischen, nicht utopischen Programm in einer Zeit der Unterfinanzierung. Und was ist, wenn die Universitäten eines Tages doch wieder ausreichend Geld haben? - Ich meine, dann sollte man es genauso machen.

 (Robert Pfaller/ DER STANDARD, 27.11.2009)