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Bücher wie "Die Schweiz wäscht weißer" machten Jean Ziegler bekannt. Seit Jahren kämpft der Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Menschenrechtsbeirats gegen die Globalisierung.

 

Zur Person

Jean Ziegler, geboren 1934 in Thun (Schweiz), ist einer der bekanntesten Globalisierungskritiker. Er schrieb zahlreiche Bücher und war Professor an der Sorbonne.

Foto: epa/ Martial Trezzini

Jean Ziegler, Globalisierungskritiker und Soziologe, sprach mit Stefan Gmündner über sein neues Buch "Der Hass gegen den Westen", Neoliberalismus, den Aufstand des Gewissens und das Buch als Waffe.

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STANDARD: Sie zitieren in ihrem neunen Buch den babylonischen Talmud: "Jede Zukunft hat eine lange Vergangenheit". Eine ihrer Thesen lautet, das Gedächtnis der geknechteten Völker sei wieder erwacht.

Jean Ziegler: Es geht um das verwundete Gedächtnis und darum, wie Gedächtnis zu Bewusstsein wird. Es handelt sich dabei um einen sehr geheimnisvollen Prozess. Ich übernehme die These von Elie Wiesel, dass, wenn im Leben eines Menschen oder eines Kollektivs etwas ganz Fürchterliches passiert, die Vernunft gelähmt ist. Das Schreckliche wird verdrängt, dann merkt die zweite Generation, weil die Eltern nicht reden, dass es ein Familiengeheimnis gibt. In der dritten oder vierten Generation erst wird das verwundete Gedächtnis dann zu politischem Bewusstsein.

Raoul Hilberg, ein österreichischer Jude, der in die USA flüchtete, hat 1952 mit "Die Vernichtung der Juden in Europa" ein absolutes Referenzwerk geschrieben. Das Buch blieb praktisch ohne Resonanz. 30 Jahre später, als eine neue Auflage erschien, war sie gewaltig. Der Holocaust, von dem in den 50er-Jahren niemand redete, wurde erst sehr spät zu einem öffentlichen Thema. Obwohl die Welt spätestens seit den Nürnberger Prozessen wusste, was für unglaubliche Verbrechen geschehen waren. Gedächtnis und Wissen haben offenbar nichts miteinander zu tun. Der Holocaust war Inhalt eines verwundeten Gedächtnisses, das erst zwei, drei Generationen später politisches Bewusstsein und politische Kraft geworden ist.

STANDARD: Dieser Mechanismus gilt auch für die Völker des Südens?

Ziegler: Ja. Die Sklaverei liegt 120 Jahre zurück, das letzte Land, das sie abschaffte, war Brasilien im Jahr 1888. Die Kolonialmassaker in Algerien fanden bis in die 1960er-Jahren statt, Indien wurde 1947 frei. Erst heute wird dieses verwundete Gedächtnis zu politischem Bewusstsein, zu historischer Widerstandskraft, es kommt zu einer Renaissance der kollektiven Identität und zu Forderungen nach Entschädigung und Entschuldigung.

Im Dezember 2007 ging Sarkozy nach Algerien, um Erdölverträge auszuhandeln. Die französische Delegation setzte sich an den Verhandlungstisch und bevor die Verhandlungen begannen, stand der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika auf und sagte, zuerst wolle er eine Entschuldigung für Setif, ein fürchterliches Massaker an 4000 unbewaffneten zivilen Demonstranten, die für die Autonomie Algeriens demonstrierten, das die Fremdenlegion am 8. Mai 1945 begangen hat. Laut Protokoll sagte Sarkozy: "Ich bin nicht der Nostalgie wegen gekommen". Replik von Bouteflika "Das Gedächtnis vor den Geschäften". Und es gab keine Verhandlungen.

STANDARD: Beim Buchtitel "Der Hass auf den Westen" würde man eher an die islamische Welt denken.

Ziegler: Es gibt zwei Arten des Hasses. Jean Paul Sartre sagt: "Um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt", nicht wer sie unterdrückt. Es gibt den pathologischen Hass, das ist jener von Al Kaida, der Taliban, des Terrors allgemein, der darauf aus ist zu hassen, wer sie unterdrückt.

Terror hat keine Legitimation, er ist organisiertes Verbrechen, was immer auch die religiösen, politischen, kulturellen Vorwände sein könnten. Der pathologische Hass kommt allerdings aus demselben Leiden wie der vernunftgeleitete, der aus dem verwundeten Gedächtnis ein politisches Bewusstsein macht, das dann Widerstandskraft, Mobilisation, soziale Bewegung wird. Er ist die neue historische Kraft bei den Völkern des Südens, wo über zwei Drittel der Menschheit leben. Es geht diesem Hass darum, mit der kannibalischen Weltordnung zu brechen, denn das Gedächtnis des Westens ist blind, arrogant und ethnozentristisch.

Die 500 größten transkontinentalen Privatkonzerne der Welt haben vergangenes Jahr 52 Prozent des Weltbruttosozialproduktes kontrolliert. Sie haben eine Macht, wie sie nie ein Kaiser, kein König und kein Papst hatte. Im Westen steigen die Gold- im Süden die Leichenberge. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Wir leben unter der Weltdiktatur des globalisierten Finanzkapitals, das im Süden als das letzte und schlimmste Unterdrückungssystem des Westens erlebt wird.

STANDARD: Sie schreiben, es sei ein Weltkrieg im Gange..

Ziegler: Ja. Aber die Unterdrückten wehren sich, und in Lateinamerika ist dieses Sich-wehren schon ein Sieg. Im vergangenen Jahr sind durch verseuchtes Wasser, Epidemien, Sterblichkeit im Kindsbett, durch Hunger sind 53 Millionen Menschen umgekommen. In einem Jahr. Das ist der dritte Weltkrieg. Die Opferzahlen steigen auch wegen der Finanzhalunken.

STANDARD: Sehen Sie in der Finanzkrise eine Chance?

Ziegler: Nein. Es gibt allerdings einen positiven und einen negativen Aspekt. Bis jetzt sind Tausende von Milliarden von Vermögenswerte vernichtet worden. Die neoliberale Wahnidee ist zersprungen, die Maske gefallen. Man hat ja immer gesagt, dass es eine unsichtbare Hand gebe, einen Weltmarkt ohne menschlichen Einfluss, dass die Marktgesetze wie Naturgesetze seien usw.. Die Privatisierung aller öffentlicher Sektoren, hieß es, sei die Voraussetzung für das maximal gute Funktionieren des Marktes. Das genaue Gegenteil ist passiert, in den letzten 15 Jahren wurde weltweit privatisiert und liberalisiert, vor allem in der südlichen Hemisphäre.

In der Folge sind die Leichenberge gestiegen, also kann die Theorie nicht gut sein. Das neoliberale Gift hat bis zur europäischen Sozialdemokratie alle vergiftet, bis hin zu Schröder, von Österreich will ich nicht reden. Diese Maske liegt, wie gesagt, am Boden. Es zeigt sich, dass dahinter nur Profitgier stand und diese Plünderer nur ihres eigenen Vorteils wegen diese Theorie aufstellten. Was aber gleichzeitig passiert, sagt ein chinesisches Sprichwort: "Wenn die Reichen abmagern, sterben die Armen".

Ein Beispiel, am 22. Oktober 2008 sind im Elysée-Palast Merkel und Sarkozy mit den 15 Staats- und Regierungschefs des Euroraumes zusammengekommen. An der nachfolgenden Pressekonferenz sagten die beiden, sie hätten 1700 Milliarden Euro freigestellt, um den Interbankenkredit zu mobilisieren und die Eigenkapitalquote der Banken von drei auf fünf Prozent zu heben. Bis zum Jahresende 2008, sind dann die Kredite der Industriestaaten für Entwicklungshilfe und humanitäre Soforthilfe massiv eingebrochen. Das Welternährungsprogramm für humanitäre Soforthilfe, bei Kriegen, bei Katastrophen hatte vor 2008 ein Jahresbudget von 6 Milliarden Dollar. Ende 2008 waren es nur noch 4 Milliarden. In Bangladesch zum Beispiel wurde die Schülerspeisung für eine Million unterernährte Kinder ersatzlos gestrichen.

STANDARD: Sie schreiben auch von der Doppelzüngigkeit des Westens ...

Ziegler: Nehmen wir ein Bespiel, Mali, ein uraltes Bauernland, hat letztes Jahr 380000 Tonnen Baumwolle exportiert und 72 Prozent seiner Nahrung, Reis vor allem, importiert. Zu Preisen, die wegen der Börsenspekulation explodierten. Gleichzeitig zerfiel der Baumwollpreis wegen der amerikanischen Massivsubvention der eigenen Baumwollbauern. Die Industriestaaten haben dieses Jahr 349 Milliarden Dollar an Export- und Produktionssubvention für ihre Bauern ausgeschüttet.

Auf jedem afrikanischen Markt können sie heute deutsches, französisches oder portugiesisches Gemüse, Geflügel oder Früchte zur Hälfte oder einem Drittel des Preises qualitätsmäßig entsprechender afrikanischer Inlandprodukte kaufen. Der afrikanische Bauer hat somit keine Chance, auf ein Existenzminimum zu kommen. Und da wundert man sich in Europa, dass die Hungerflüchtlinge zu Zehntausenden übers Mittelmeer, den Atlantik zu kommen versuchen.

Diese Scheinheiligkeit ist abgrundtief. Zudem sind die großen Spekulanten nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte in die Agrarbörsen umgestiegen – und machen dort astronomische Profite mit der Spekulation auf Reis, Mais und Getreide, deren Preise explodiert sind. Das ist die kannibalische Weltordnung in ihrer Dynamik.

STANDARD: Sie sind studierter Soziologe, man hat den Eindruck, Soziologie habe heute, obwohl sie wichtig sein könnte, kaum mehr eine Bedeutung.

Ziegler: Soziologie ist eine Befreiungsbewegung. Sartre hat gesagt, "den Feind erkennen, den Feind bekämpfen". Ich möchte, dass mein Buch eine Waffe zum Aufstand des Gewissens bei uns ist. In meinem Arbeitszimmer in einem kleinen Dorf bei Genf nahe der Schweizer Grenze, wo die Schweiz endlich zu Ende ist, habe ich ein Foto aufgehängt, darauf Bertolt Brecht auf einer Parkbank sitzend. Er hat ein offenes Buch auf den Knien, darunter steht: Bertolt Brecht, bewaffnet.

Jeder hat in sich den kategorischen Imperativ, jeder. Bei Kant steht: "Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir". Da ich jetzt Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrates bin, habe ich ein unglaubliches Privileg, unter anderem Mitarbeiter und Zugang zur ganzen UNO-Dokumentation. Das gibt eine Verantwortung, Kraft auch. Daraus ist das Buch entstanden.

STANDARD: Sie sind immer auch auf Widerstand gestoßen..

Ziegler: Vor allem von der amerikanischen Diplomatie, die zwei Mal meine Abberufung forderte.

STANDARD: Es wird Ihnen vorgeworfen, zu Muammar al-Gaddafi eine Nähe zu haben

Ziegler: Den kenne ich, ja. Aber zwischen einem Intellektuellen und einem Staatschef kann es keine Nähe geben. Ich werde auch immer wieder von Castro oder Bouteflika eingeladen. Das hat auch damit zu tun, dass ich die Interessen des Südens verteidige und Radikalkritik an der westlichen Herrschaftsstruktur äußere.

STANDARD: Es ist vergeblich, aber nicht umsonst, haben Sie einmal geschrieben. Was gibt Ihnen die Kraft zum Weitermachen?

Ziegler: Ich habe in meiner Tätigkeit für die UNO viel gesehen. Beispielsweise in somalischen Flüchtlingslagern. Sterbende Kinder vergisst man nicht. Nie mehr im Leben. Gleichzeitig bin ich ein Privilegierter unter den Privilegierten. In der Schweiz aufgewachsen, liebevolle Familie, ich habe studieren, also analytische Waffen schmieden können, lebe in einem Land, das zwar ein wenig korrupt ist, aber die Freiheitsrechte respektiert. Wenn ich da nicht klar reden würde, könnte ich nie mehr in den Spiegel sehen. Wenn man nichts tut, in den Hedonismus abgleitet, oder in die Indifferenz, gehört man gehängt. Der französische Schriftsteller Bernanos hat gesagt, "Gott hat keine andern Hände als die unsern". Ich glaube an Gott und Punkt. Meine Mutter sagte immer, "mach di Sach". Entweder man tut, was man kann, oder man verdient es nicht zu leben.

STANDARD: Und die Hoffnung?

Ziegler: Ich habe große Hoffnung, weil der Widerstand in der südlichen Hemisphäre fortschreitet. In Südamerika werden die Plünderer enteignet. In Afrika wird dieser Aufstand beginnen, man weiß nicht wann, aber er wird kommen. Und die neue planetarische Zivilgesellschaft entsteht aus dem kategorischen Imperativ, nicht aus einer politischen Ideologie, nicht geleitet von einem Zentralkomitee. Der Aufstand des Gewissens im Westen, die Nationenbildung im Süden sowie die Solidarität zwischen beiden wird zu einer neuen planetarischen Revolution führen. (Langfassung des in DER STANDARD, Printausgabe, 25.11.2009 erschienen Interviews)