Malerische Idylle jenseits des Polarkreises: Im Fischerdorf Nusfjord auf den Lofoten verbringen genau 16 Personen die kalte Jahreszeit.

Foto: Taschwer

Mitte November gilt für einen Ausflug nach Nordnorwegen als eine eher suboptimale Reisezeit. Zwar macht der Golfstrom die Gegend rund um die Inselgruppe der Lofoten zum wärmsten Landstrich jenseits des nördlichen Polarkreises. Doch spätestens, wenn man mit Henry Johnson um diese Zeit des Jahres eine kleine Safari unternimmt, dann hilft weder die Zentralheizung des Golfstroms mit seiner Energiemenge von insgesamt umgerechnet einer halben Million Kernkraftwerke noch die sieben Lagen Gewand unter dem grellen roten Overall.

Johnsons Meeresrafting-Tour, die ihren Ausgang im Hafen der Kleinstadt Bodø nimmt, findet nämlich im offenen Schlauchboot statt, das von einem beunruhigend großen Yamaha-Motor angetrieben wird. "Den braucht es für den Saltstraumen", sagt der blonde Hüne, "und außerdem haben wir keine Zeit zu verlieren." Es ist nämlich bereits knapp vor zwei Uhr, und um die Jahres- und Uhrzeit ist die Sonne auf der Breite der 45.000-Einwohnerstadt längst schon wieder am Untergehen.

Also wird außerhalb des Hafens gleich einmal ordentlich beschleunigt und fortan mit knapp 70 km/h über die Wellen gefegt. Die Geschwindigkeit verwandelt die null Grad Celsius Außentemperatur flugs in gefühlte minus 30. Seltsamerweise hat das Meerwasser, das den rot gewandeten Michelin-Männchen und -Weibchen immer wieder ins nicht völlig verhüllbare Gesicht spritzt, irgendwie schon wieder etwas Wärmendes.

Nach zwanzig Minuten eiskalter Höllenjagd ist dann endlich der Saltstraumen erreicht, "der mächtigste Gezeitenstrudel der Welt", wie Johnson erklärt und das Tempo drosselt. An der Meeresenge vor dem plötzlich etwas klein wirkenden Schlauchboot erscheinen plötzlich ziemlich bedrohlich aussehende Wasserwirbel, die wiederum daher rühren, dass bei jedem Gezeitenwechsel fast 400 Millionen Kubikmeter Wasser in den Skjerstadfjord hinein- und wieder herausströmen.

"Diese Strudel können einen Durchmesser von mehr als zehn Metern haben und sich mit bis zu 40 km/h bewegen", sagt Johnson, gibt wieder Gas und brettert gleich zweimal über die Wasserwirbel drüber - ehe er mit seiner vor Kälte und Schreck erstarrten Besatzung in den Fjord hinein und zum nächsten Superlativ rast.

"Nirgends auf der Welt gibt es mehr Seeadler auf einem Fleck wie hier", sagt der Naturführer, "in der näheren Umgebung von Bodø leben 90 Pärchen, und die Population wächst weiter." Wie gerufen fliegt einer der mächtigen Greifvögel, die eine Flügelspannweite jenseits der zwei Meter haben, in nicht allzu großer Höhe über das Boot.

Im Laufe der abenteuerlichen Spritzfahrt sollte sich noch ein weiteres Prozent der Adlerpopulation zeigen. Ein Jungvogel, der noch keine weißen Schwanzfedern hat, animiert Johnson dazu, seinen Grundkurs in angewandten Vulgärdarwinismus - Motto: nur die Härtesten kommen durch - fortzusetzen. "Wenn die Adler zwei Junge haben und nicht genug Essen da ist, verfüttern sie das Schwächere an das Stärkere. Das ist echtes Survival of the Fittest", sagt er. Später wird er beiläufig erwähnen, früher einmal bei der Spezialeinheit des norwegischen Militärs gewesen zu sein. Dass er fließend Suaheli spricht, verschweigt er ganz.

Bodø ist nicht nur der ideale Ausgangspunkt für Seeadlersafaris, sondern auch für Reisen noch weiter in den Norden: auf die beiden ziemlich einzigartigen Inselgruppen der Vesterålen und der Lofoten, die per ganz normaler Fähre in wenigen Stunden erreichbar sind. Und auch dort finden sich einige Superlative - nicht zuletzt in Form von Wikingerspuren.

Nahe des kleinen Lofoten-Dorfes Borg hat man zum Beispiel die Fundamente des bislang größten Wikingerlanghauses überhaupt gefunden, das immerhin 89 Meter lang ist. Archäologen haben es ganz in der Nähe rekonstruiert und daraus ein Freilichtmuseum gemacht, in dem Laienschauspieler mehr oder weniger authentische Wikingergelage nachstellen.

Rekordverdächtig alt ist die farbenprächtige Gebirgslanschaft der Lofoten, wo knapp 25.000 Menschen auf der dreifachen Fläche Wiens leben: Die zum Teil mehr als 1000 Meter hohen schroffen Berge, die der Insel ihr einmaliges Gepräge geben, zählen zu den ältesten geologischen Formationen des Planeten.

Rekordverdächtig kalt wiederum ist es - selbst während der Sommerwochen, in denen die Sonne nicht untergeht - im Eisskulpturenmuseum von Svolvær, dem Hauptort der Lofoten. Die Betriebstemperatur beträgt minus sieben Grad, damit die Kunstwerke aus Eis keinen Schaden nehmen. Wie angenehm temperiert das ist, merkt man in der unmittelbar angrenzenden und durch das Museum begehbaren Fischgefrierhalle, wo es noch einmal 23 Grad kälter ist.

Der Fisch ist überhaupt allgegenwärtig auf den Lofoten. Die malerischen Häfen sind angefüllt mit Fischerbooten; in den Gewässern rund um die Inselgruppe gibt es zahlreiche Lachsfarmen. In der Landschaft stehen riesige Holzgestelle herum, auf denen im Frühjahr Kabeljau zu Stockfisch getrocknet wird. Und die angesagteste Bar von Svolvær heißt natürlich Bacalao - nach der spanischen Bezeichnung für den Trockenfisch.

Die Fischindustrie und in den vergangenen Jahren mehr und mehr auch der Tourismus haben den Lofotingern zu einigem Wohlstand verholfen. Deshalb besitzen viele von ihnen Wohnungen auf den Kanarischen Inseln, um dort zu überwintern. Anfang Dezember nämlich verschwindet auf den Lofoten die Sonne für gut einen Monat unter dem Horizont. Dafür scheint sie dann im Sommer fünf Wochen lang am Stück - der angeblich optimalen Reisezeit für Nordnorwegen. (Klaus Taschwer/DER STANDARD/Printausgabe/21.11.2009)