Pinocchios Albträume
Mit der Bearbeitung einer vermeintlich hinlänglich bekannten Geschichte, nämlich der von Pinocchio, hat sich der französische Comic-Künstler Winshluss alias Vincent Paronnaud in die obersten Sphären des Graphic-Novel-Universums katapultiert. Seine opulente Neuinterpretation des Kinderbuch-Klassikers von Carlo Collodi ist ein visuelles Kaleidoskop, das nicht nur durch stilistische Virtuosität besticht, sondern auch durch die unbändige Energie, mit der es die Grausamkeit des Originals genüsslich auf die Spitze treibt.
Winshluss' Pinocchio ist nicht aus Holz gemacht, sondern ein stählener Roboter, erschaffen von einem geldgierigen und skrupellosen Geppetto. Pinocchio kann zwar gleich zu Beginn seinem ihm zugedachten Schicksal als Killerpuppe entkommen, was ihn aber während der darauffolgenden Odyssee erwartet, ist um nichts besser: Zynismus und Zerstörung beherrschen eine verdorbene Welt.
Die albtraumhafte Reise führt Pinocchio und Geppetto, der ihm auf den Fersen ist, auf verworrenen Wegen durch dunkle Kanäle, die schreckliche Spielzeugfabrik Stromboli, eine von einem despotischen Clown beherrschte Insel und den Schlund eines Riesenfisches. Dabei verwebt Winshluss ver-schiedene Handlungsstränge, Flashbacks und die parallel verlaufende Geschichte der dem Alkohol verfallenen Küchenschabe Jimmy, die es sich in Pinocchios Kopf häuslich gemacht hat, geschickt ineinander. Tuschzeichnungen, koloriert mit kräftigen Farben, wechseln sich mit verwaschenen Bildern, die bis auf die Geschichte von Jimmy ganz ohne Worte auskommen.
In dem penibel durchdesignten Buch, das auf dem renommiertesten internationalen Comic-Festival im französischen Angloulême als "Bestes Album 2009" ausgezeichnet wurde, verdreht Winshluss Walt Disney genauso wie Film noir, Fritz Lang oder den Illustrationsstil früher Cartoons. Respekt hat er dabei vor gar nichts - und das ist auch gut so.
Eine Neubetrachtung des Lebens einer ganz realen historischen Figur haben der Zeichner Christoph Raffetseder und der Autor Herbert Christoph Stöger in ihrem Debüt-Comic Curt Kubin vorgenommen. Eine Fact-Fiction-Biografie nennen die beiden Oberösterreicher ihren Versuch, in das visionäre Denken des Grafikers, Malers und Schriftstellers Alfred Kubin vorzudringen - offenbar in Anspielung auf den Starkult eines Kurt Cobain, dem Sänger von Nirvana, der außer im Titel allerdings keine Rolle spielt.
Wenn Kubin träumt
Anhand von chronologisch angeordneten, traumähnlichen Sequenzen werden kurze Momentaufnahmen aus Kubins Leben gezeigt. So reihen sich reale und erfundene Begegnungen mit anderen Künstlern wie Kafka, mit verschiedenen Frauen, mit Jesus und dem Gauleiter fast beiläufig aneinander - und werden so dem düster-fantastischen Werk Kubins auf ihre eigene Weise gerecht. Und das ist es schließlich auch, was Graphic Novels an sich auszeichnet: Sie können einen buchstäblich anderen Blickwinkel bieten. (Karin Krichmayr, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 21./22.11.2009)
- Joe Sacco, "Palästina" . € 25 / 288 Seiten. Edition Moderne, 2009
- Guy Delisle, "Aufzeichnungen aus Birma". € 20 / 272 Seiten. Reprodukt, 2009
- Josh Neufeld, "A.D.: New Orleans after the Deluge" . € 16 / 208 Seiten. Pantheon, 2009
- Winshluss, "Pinoccio" . € 29,95 / 192 Seiten. Éditions Les Requins
- Marteaux 2009.Eine deutsche Ausgabe erscheint demnächst im Avant-Verlag
- Christoph Raffetseder, Herbert Christian Stöger, "Curt Kubin" . € 18 / 68 Seiten. Verlag Bibliothek der Provinz, 2009