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Die Schulmedizin ist von der tumorzelltötenden Wirkung der Mistel nicht überzeugt.

Foto: APA/Ferdinand Ostrop

Labortechnik, Röntgendiagnostik und andere apparative Untersuchungsmethoden sind Anthroposophen weder fremd, noch lehnen sie die naturwissenschaftlich orientierte Medizin generell ab. Sie ist ihnen einfach zu wenig. Über eine eigene Erkenntnismethodik versuchen sie mehr über Gesundheit und Krankheit von Menschen herauszufinden.

Der Anthroposoph, ein Erkenntnismediziner mit übersinnlichen Fähigkeiten? Thomas Meisermann, Internist am Wiener Otto Wagner Spita dazul: „Anthroposophen gehen auch den Weg der Bewusstseinserweiterung. Subtile Wahrnehmungs- oder Erkenntnisfähigkeit ist jedoch durch Schulung und Übung steigerbar." In seiner Ausbildung zum anthroposophischen Arzt hat Meisermann also gelernt in ein feines Sensorium für die Befindlichkeiten und Störungen seiner Patienten zu entwickeln. Wünschelruten und Pendel braucht er dazu nicht.

Gesundheit vor Krankheit

Eine ganzheitliche Methode, die von Rudolf Steiner Anfang des 20. Jahrhundert begründet, Körper, Geist und Seele als Einheit betrachtet. Persönliches Krankheitserleben, Ängste und Hoffnungen fließen in die Arzt-Patienten-Begegnung ganz selbstverständlich mit hinein. Was die anthroposophische Medizin von der konventionellen und anderen komplementärmedizinischen Methoden grundlegend unterscheidet: Sie stellt weniger die Frage nach der Entstehung von Krankheit. Sie geht vielmehr der Salutogenese, der „Erzeugung" von Gesundheit, nach.

„Unser Hauptmotiv ist es, dem Patienten zu helfen seine eigene Selbstkompetenz wiederzufinden", so der Anthroposoph Meisermann. Gesundheit gilt als individuelles Gut, der anthroposophische Arzt unterstützt den Menschen dabei seinen persönlichen Weg zu finden.
Im Otto-Wagner-Spital fließen auf der Station für internistische Rehabilitation und Akuttherapie anthroposophische Aspekte seit kurzem bereits in die tägliche Arbeit des medizinischen Personals mit ein. Meisermann war an der Konzeption dieses stationären Angebots maßgeblich beteiligt. Neben traditionell motorischer Rehabilitation durch physiotherapeutische und ergotherapeutische Maßnahmen, werden allopathische Medikamente, wie Schlafmittel, Psychopharmaka oder Schmerzmittel und wahlweise auch anthroposophische Heilmittel eingesetzt. Die Philosophie dahinter weiß Meisermann zu erklären: „Dem Patienten ist es ohne schulmedizinischen Medikamentencocktail leichter möglich Kräfte für seine Rehabilitation zu mobilisieren".

Keine Alternative

Der Patient hat dabei immer die Wahl und kann sich gegebenenfalls auch für ein konventionelles Schlafmittel entscheiden. Dem Anthroposophen geht es allein um die Individualität und deshalb bedient er sich bei der Behandlung seiner Patienten sowohl gängiger allopathischer Heilmittel, wie auch anderer bekannter Naturheilmethoden.
Am Beispiel der Homöopathie lässt sich der anthroposophische Zugang anschaulich demonstrieren: Homöopathische Substanzen machen zwar einen Gutteil des anthroposophischen Arzneimittelstockes aus. Homöopath ist der Anthroposoph aber keiner. „Ein homöopathischer und ein anthroposophischer Arzt kommen bei ein- und demselben Patienten unter Umständen zu einem völlig anderen Behandlungsergebnis", weiß Meisermann und so hat die Arzneimittelkommission der deutschen Bundesregierung unter anderem formuliert, dass Sulfur in der Hand von Homöopathen völlig anders zu bewerten ist, als in der Hand der Anthroposophen.

Phytotherapeutika ergänzen noch das substanzielle Repertoire des anthroposophischen Mediziners. Am Ende seiner therapeutischen Möglichkeiten ist er damit aber noch nicht. Mit nicht-medikamentösen Methoden, wie der Heil-Eurythmie, rhythmischer Massage und verschiedene Kunsttherapien werden Behandlungskonzepte vom Anthroposophen bei Bedarf noch ergänzt.

Misteltherapie in der Onkologie

Im Mittelpunkt kritischer Betrachtungen der anthroposophischen Medizin steht die Mistel, ein Heilmittel, das von Anthroposophen entwickelt wurde und in der Onkologie mittlerweile reißenden Absatz findet. „In Zellkulturversuchen wurde nachgewiesen, dass Mistelpräparate wachstumshemmend auf Tumorzellen wirken", erklärt der Wiener Internist und will das Präparat mit dieser selektiven Wirkung deutlich von der klassischen Chemotherapie abgegrenzt wissen. Viele Schulmediziner können der Pflanze hingegen wenig Positives abgewinnen. Ein Cochrane Review aus dem Jahr 2008 resümiert den Einfluss der Misteltherapie auf das Tumorverhalten und die Überlebenszeit von Tumorpatienten als schwach und hält die vorhandene Evidenz als nicht ausreichend um den Einsatz der Misteltherapie zu unterstützen.

Wie auch immer, mit dem Anspruch zur Selbstkompetenz, obliegt es ohnehin dem Patienten allein, ob er die Mistel für seine Zwecke in Anspruch nimmt oder auch nicht. „In der klassischen Schulmedizin wird der Patient in das System hineingepresst. Der Anthroposoph dagegen stellte den Patienten mit seinen Bedürfnissen ins Zentrum", ergänzt Meisermann und hofft, dass diese patientenorientierte Medizin bald in mehr Spitälern Einzug hält. (Regina Philipp, derStandard.at, 16.12.2009)