Kiss - Sonic Boom (Roadrunner Records / Warner)

 

Foto: Warner

Zu hören gibt's nun die erste Studioarbeit seit elf Jahren.


Rock 'n' Roll ist keine Kinderjause. Nur böse Buben beschäftigen sich mit dem Musikstil für die niederen Instinkte. Eherne Erkenntnisse des Genres. Dass man aber diese Musik im gegenteiligen Sinn als Faschingsparty für Vorpubertäre inszenieren kann, lebt uns seit 1972 Gene Klein vor. Der New Yorker Grundschullehrer, der sich bald in Gene Simmons umbenennen sollte, lernte damals den Taxifahrer Paul Stanley kennen und gründete mit diesem die reichlich erfolglose Band Wicked Lester. Eine tatsächlich gesichtslose Combo, auf die die Welt keinesfalls gewartet hatte. Immerhin aber kam dem Herrn Lehrer bald schon in den Sinn, dass ein zünftiges Alleinstellungsmerkmal im Geschäft der reichlich unauffälligen Rockmusik, die man produzierte, auf jeden Fall dienlich sein könnte. Make it big. Und schmink dich interessant.

Mit den bald dazugekommenen Musikern Ace Frehley und Peter Criss gelangte Gene Simmons zur unumstößlichen Wahrheit, dass das Kind nicht nur im Kind, sondern eben auch im Manne stecke. Unvernunft und Übermut für alle. Das Leben ist langweilig, immer dasselbe. Weg mit dem Grauschleier. Ein bisschen Farbe tut gut. Zeit für Schabernack. Wir wollen nur spielen! Wir wollen spielen - und es darf keine Folgen zeitigen.

Simmons entwickelte mit Kiss eine rein an der Oberfläche agierende Band, die beim Bandlogo noch dazu minderjährig-unbedarft, aber mit einem untrüglichen Gespür für Aufmerksamkeitsökonomie gesegnet, mit SS-Runen spielte. Kiss standen nach ihren erfolglosen Anfängen in der New Yorker Clubszene für eine Form von Rock 'n' Roll, die das immerwährende Kinderzimmer in unser aller Leben tatsächlich ernstnahm. Er erreichte dies mit seinen Kollegen dadurch, dass er sich als blut- und feuerspuckendes Kuschelmonster inszenierte. Gene Simmons als selbstinszenierte Comicfigur "The Demon" für die Buben, dem Paul Stanley für die Mädchen als brustbehaartes sternäugiges "Starchild" beigestellt wurde. Gitarrist Ace Frehley als "The Spaceman" und Schlagzeuger "The Cat" fielen - ähnlich wie früher bei den Beatles George Harrsion oder Ringo Starr - in den Fanclubs für jene Anhänger ab, für die bei der Verehrung von Idolen auch der Mutterinstinkt eine entscheidende Rolle spielt. Süß!

Hotter Than Hell, das zweite Album, brachte den internationalen Durchbruch. Ab Mitte der 1970er-Jahre und Folgearbeiten wie Dressed To Kill, dem legendären Livealbum Alive! oder Love Gun stiegen Kiss zu i i einer weltweiten Bedrohung für den guten Geschmack auf. Kaum eine Band außer den australischen AC/DC wurde in der Szene so angefeindet wie die vier New Yorker. Musikalisch gesehen spielte man bis herauf zum Höhepunkt der Kiss-Hysterie, dem 1979 erschienenen Album Dynasty mit der erfolgreichsten Single der Band, dem Disco und Hardrock verbindenden Klassiker I Was Made For Loving You, unbedarften Hardrock für die Großraumhallen und Sportstadien dieser Welt. Kiss konnten und wollten es auf dramatisch hohen Stöckelschuhen und einem für ein Las Vegas in der Hölle erdachten Live-Spektakel, das mitunter mehr an Silvesterfeuerwerke und Shows von Siegfried & Roy als an Rockkonzerte erinnerte, auch gar nicht darauf anlegen, durch besondere handwerkliche Fähigkeiten zu glänzen. Hits wie Detroit Rock City, God of Thunder oder Rock And Roll All Nite klingen heute wie damals plump - und dadurch umso zwingender.

Kiss brachen auf ihren Tourneen sämtliche Zuschauerrekorde. Sie vermarkteten im größten bis dato bekannten Merchandising-Programm nicht nur T-Shirts, sondern auch Schminkutensilien und sich selbst als Spielzeugfiguren. Es gab Flipperautomaten im Kiss-Design, Halloween-Masken und Brettspiele, ja, sogar einen allerdings kläglich an den Kassen untergegangenen Spielfilm: Kiss Meets The Phantom Of The Park. Kiss waren in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Jede Band, die von der Erwachsenenwelt den Vorwurf zu hören bekommt, es handle sich bei ihrer Tätigkeit um unbedarften Blödsinn und infantile Spinnerei, hat im Kinderzimmer gewonnen. Wenn die Welt zu klein wird, macht man sich künstlich groß und entflieht dem Alltag mit haltlosem Hedonismus. Kiss stehen auch für eine sich jahrzehntelang aufbauende Infantilisierung und Ironisierung des Alltags. Dies ist heute erreicht. Kiss, das sind wir alle. Und alle sind wir balla-balla.

Nach persönlichen Krisen, der Wahnsinnsidee, in den 80er-Jahren die Band fortan ungeschminkt zu betreiben und sogar ein Unplugged-Album aufzunehmen, waren Kiss unbeabsichtigt zu jenem schlechten Witz geworden, der sie immer sein wollten. Erst 1996 packte man wieder die Schminktiegel aus. Der Erfolg kam zurück. Mit ihm die Gewissheit, dass Musik und Persönlichkeit in der Popwelt nicht zum Wichtigsten gehören. Schein über Sein. Egal, wer auf der Bühne steht - Hauptsache, die Maske hält.

Anlässlich des Erscheinens von Sonic Boom, der ersten Studioarbeit der Band seit elf Jahren, entwickelte Gene Simmons jetzt die schöne Idee, dass die Band auch nach dem physischen Ableben ihrer Originalmitglieder als Marke weitergeführt werden könne. Egal, wer sich hinter den Masken verberge, es zähle die "Idee". Kiss, das seien wir alle, Zahnarzt, Pizza- oder Fahrradbote. In jedem Menschen steckt ein Knuddelmonster. Die Musik? Stadiongeeigneter Hardrock im Breitwandformat. Was soll's! (Christian Schachinger / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30.10.2009)