Die Stadt, die Welt ist draußen, drinnen ist nur das Ballett der Pariser Oper - vor Frederick Wisemans Kamera.

Foto: Viennale

Das Großartige an Frederick Wisemans Film über das Ballett der Pariser Oper ist die Verweigerung des Dokumentaristen gegenüber den Normansprüchen des Infotainment. In La Danse - Le Ballet de l'Opéra de Paris gibt es keine Kommentatorenstimme, die dem Konsumenten mitteilt, welcher Star oder Normalsterbliche gerade ins Bild gerückt ist, keine Inserts mit den Namen von Choreografen, Administratoren und Tänzern. Und es gibt, so arbeitet der heute 79-jährige Amerikaner prinzipiell, auch hier keine Interviews.

Der Einstieg ist so grandios wie lapidar: Panorama mit Montmartre, aus mittlerer Distanz die Fassade der Pariser Oper, Schnitt in die Kellergelasse des Operngebäudes, Bild eines enges Treppenhauses, die Intimität im Probensaal. Und es geht los: Tänzer, die sich abmühen, Choreografen und Ballettmeister, die Anweisungen geben, Verwaltungspersonal in Aktion. Spannungen, Intensitäten, Tonlagen.

Für das Publikum beginnt ein paradiesischer Zustand. Es wird nicht dazu gedrängt, bei Namen von "Étoiles" wie etwa Aurélie Dupont oder Laetitia Pujol beziehungsweise Marken-Choreografen wie Angelin Preljocaj, Wayne McGregor oder Mats Ek aufzumerken. Die Bedeutung der Personen, die von der Kamera beobachtet werden, ergibt sich allein aus ihren Handlungsmustern und daraus, wie oft sie vom Regisseur ins Bild gerückt werden. Und hier dominiert eindeutig Brigitte Lefèvre, 65, die allmächtige Mutter des Balletts in dem bis Juli 2009 von Gerard Mortier geleiteten Opernhaus.

Dem Operndirektor hat Wiseman keinen Höflichkeitsbesuch abgestattet, und er verzichtet auch auf Ausflüge in die andere Sparte. Das Ballett zeigt sich so als ganz eigene Struktur im Haus, und wer Lefèvre einmal begegnet ist, weiß, dass sie eine Hausmacht darstellt, mit der man sich eher nicht anlegt. Die Oper scheint ganz dem Ballett zur Verfügung zu stehen. So vermittelt der Dokumentarist eine geschlossene Welt mit einem strikten Regelwerk, einer strengen Hierarchie und ganz eigenen Kommunikationsritualen.

Schmale, endlos scheinende Gänge, verwinkelte Stiegenhäuser, Lichtreflexe auf dem Boden verweisen auf das Gespenstische in dieser Struktur. Frederick Wiseman steigt auf das Dach der Oper und in die Kanalanlage unter den Kellern. Filmt die Fische, die im Abwasser schwimmen, und schon ist er wieder zurück in den Probesälen, schert aus in die Kostümschneiderei, wechselt in die Kantine, flaniert im prunkvollen Foyer, schaut auf das morgendliche oder abendliche Paris.

Die Stadt, die Welt ist draußen, und drinnen ist nur das Ballett.

Dieses präsentiert sich der Kamera so diszipliniert, dass man annehmen könnte, sie würde gar nicht bemerkt. Was natürlich nicht stimmt, und das perfekte "Übersehen" der anwesenden Kamera, die konsequent auf gierige Close-ups verzichtet, vermittelt einen Eindruck von den kühlen Oberflächen, die im Ballett vorherrschen. Auf die sich darunter abspielenden Dramen geht Wiseman nicht ein.

Darüber erzählen die menschenleeren Keller, die kühlen Aufnahmen von Stücken aus dem Repertoire des Balletts und die "Performance" der mitgeschnittenen Dialoge. Der fiebrige Ehrgeiz der jungen, frisch engagierten Ballerina im Gespräch mit der gönnerhaften Ballettmutter.

Der Stress in manchen Proben. Die Ferne des Lebens. (Helmut Ploebst, DER STANDARD/Printausgabe, 24.10.2009)