Der "Herr Karl" sei ein typischer Österreicher gewesen, glaubt Historiker William Johnston: "Einer, der laut spricht, der imponieren will und der keinen Widerstand duldet."

Foto: Filmarchiv Austria

Traditionell pflege der "österreichische Mensch" aber das Versöhnende, meint Johnston

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In Österreich sei erst spät damit begonnen worden, zu erforschen, was "das Österreichische" ausmacht. Die Folgen seien fatal, meint der Historiker William M. Johnston: Kein Selbstverständnis zu haben, mache die Politik prinzipienlos und die Menschen orientierungslos. Durch die Besinnung auf "das Österreichische" könnten Tendenzen des Rassismus geschwächt werden, glaubt Johnston im Gespräch mit Maria Sterkl. Er selbst sehe in den heutigen ÖsterreicherInnen eine alte Tradition des "Gefallen-Wollens", sagt der Historiker.

derStandard.at: Sie forschen nach dem "österreichischen Menschen". Was soll das sein?

Johnston: Der österreichische Mensch der Monarchie zeichnete sich aus durch seine Versöhnlichkeit, durch sein Vermitteln. Es war die Aufgabe des deutschsprachigen Österreichers, die anderen Völker der Monarchie zu verstehen und mit ihnen eine gemeinsame Kultur – durch die Armee, durch die Literatur, die Bildende Künste – herzustellen. Der Österreicher war ein Vermittler, ein Versöhner in Südosteuropa.

derStandard.at: In Wien wurde von Nicht-Deutschsprachigen aber durchaus Assimilation verlangt. Wo ist hier das Vermittelnde?

Johnston: Das Versöhnungsprogramm war ein Ideal von Beamten, sie wollten einen Traum verwirklichen. Noch vor dem Ersten Weltkrieg sah man ein, dass dieser Versuch äußerst schwer war. Aber es war ein Versuch.

derStandard.at: Wenn Sie heute durch Wien spazieren, erkennen Sie dann diesen Typus des vermittelnden, österreichischen Menschen wieder?

Johnston: Ja, einige Merkmale dieses Typus gibt es tatsächlich noch: Der Wunsch, verstanden zu werden, gut anzukommen und einen guten Eindruck zu machen – der ist noch da. Auch den Wunsch, dass die Leute miteinander ins Gespräch kommen, den gibt es noch. Die Wiener machen viel lieber Podiumsdiskussionen, als Vorträge: "Ein jeder soll zum Wort kommen."

derStandard.at: Wer österreichische Wahlkämpfe mitverfolgt, sieht eher Ausgrenzendes als Versöhnendes – Stichwort "Daham statt Islam".

Johnston: Das Ideal des theresianischen Menschen hat den Ersten Weltkrieg kaum überlebt – auf politischer Ebene. Aber auf menschlicher Ebene, in der Familie, in der Kunst, kann so ein Ideal überleben, und es könnte wieder entdeckt werden. Die Globalisierung bringt eine größere Vielfalt an Sprachen und Kulturen nach Österreich als jemals zuvor. Und die Präsenz der Immigranten verlangt die Wiederentdeckung dieses Verständnisses, dieses Vermittelns.

derStandard.at: Wie wirkt sich die vergangene Praxis des Vermittelns auf das heutige "Österreichische" aus?

Johnston: Ich behaupte, dass hier in Wien die Vielfalt an Menschentypen größer ist als in anderen europäischen Städten. Es gibt in Österreich Typen, die man anderswo nicht findet.

derStandard.at: Was wäre so eine typisch österreichische Spezies?

Johnston: Der "Wallungsmensch", von dem der Essayist Richard Schaukal spricht: Das sind Menschen, die sich leicht aufregen, die heftig sprechen und sich bei einem Gespräch durchsetzen wollen. Diesen Typen bin ich in Österreich begegnet, und nur hier. Wenn so einer loslegt, muss ich schweigen, da habe ich keine Chance, ich bin wehrlos gegen den Wallungsmenschen.

derStandard.at: Kennen Sie österreichische PolitikerInnen, die diesen Typus erfüllen?

Darauf verzichte ich (lacht). Der Herr Karl wäre so ein Typ. Der Thomas Bernhard nicht, der wäre das Gegenteil. Den Wallungsmenschen gibt es auch nicht als Frauentypus, das ist immer ein Mann: Einer, der laut spricht, der imponieren will und der keinen Widerstand duldet.

derStandard.at: Bruno Kreisky vielleicht?

Johnston: Ja! Kreisky war so einer. Gutes Beispiel.

derStandard.at: Was könnten die ÖsterreicherInnen aus Ihrer Forschung lernen?

Johnston: Ich habe zusammengetragen, was es bis 1967 an Diskurs über die österreichische Eigenart gegeben hat. Nun hat man etwas, worauf man sich beziehen kann. Jeder Leser und jede Leserin soll dann eine eigene Wahl treffen, welcher von mir zitierte Autor ihm oder ihr am liebsten ist. Und dann kann man schauen, was die Eigenart Österreichs wirklich ist. Wichtig ist, dass man sich nicht mit herkömmlichen Bildern identifiziert, sondern sich distanziert.

derStandard.at: Wovon sollte man sich distanzieren?

Johnston: Vom Tabu, Österreich mit Deutschland zu vergleichen. Man sollte anfangen, darüber zu reden, in welchen Hinsichten sich die Österreicher seit eh und je von den Deutschen unterscheiden. Erst dann kommt man zu einem klareren Bild der Identität des Österreichs. Es ist höchste Zeit dafür.

derStandard.at: Viele EssayistInnen des frühen 20. Jahrhunderts – Alfred Polgar, Karl Kraus – nähern sich dem Österreichischen mit Satire und Witzemacherei. Liegt das daran, dass Österreich als „Spaßnation" gesehen wurde – der Reststaat, den keiner wollte?

Johnston: Die Witzemacherei ist älter als die Jahrhundertwende, schon Grillparzer machte böse Witze. Aber jenseits des Kaffeehauswitzes gibt es eine tiefer liegende Art, das Österreichische zu betrachten. Es gab große Diagnostiker, die erkannten, welche Folgen der österreichische Mangel an Selbsterklärung haben kann. Schließlich hat Österreich sehr spät begonnen, über die eigene Kulturgeschichte nachzudenken, erst hundert Jahre nach den Deutschen.

derStandard.at: Welche Folgen hat es, nicht zu wissen, was „das Österreichische" ist?

Johnston: Die staatstragenden Schichten konnten sich selbst nicht verteidigen, weil sie ihre Prinzipien nicht definiert hatten. Sie konnten sich nicht genügend von Deutschland unterscheiden, um im Ersten Weltkrieg die Politik Deutschlands beeinflussen zu können. Man war überwältigt.

derStandard.at: Warum halten Sie es heute für wichtig, nationale Identitäten zu stiften? Es geht es doch eher darum, transnational zu denken.

Johnston: Ohne Selbstverständnis kann man kein langes Leben führen, man wird orientierungslos. Wir brauchen Verbindungen zur Vergangenheit, und zu den noch nicht geborenen Enkelkindern. Und diese zeitüberspannenden Verbindungen funktionieren hauptsächlich durch die Kulturgeschichte. Außerdem ruft die Globalisierung die Problematik der Monarchie in Erinnerung: Die Österreich müssen von Neuem lernen, wie man mit Nichtösterreichern zusammen lebt. Die Präsenz der Immigranten verlangt die Wiederentdeckung dieses Verständnisses, dieses Vermittelns.

derStandard.at: Glauben Sie an den Begriff der Leitkultur?

Johnston: Das Ideal des theresianischen Menschen war eine Leitkultur für Beamte. Aber heutzutage – was für eine Leitkultur soll das sein? Sie sollte das Wesentliche betonen, aber nicht allzu kompliziert sein.

derStandard.at: Wäre eine Selbstdefinition als Einwanderungsgesellschaft schon zu kompliziert?

Johnston: Nein, überhaupt nicht. Die Multikulturalität kann man ja erklären.

derStandard.at: In den letzten Jahren wird eine Abgrenzung gegenüber "den Anderen" – das können Zugewanderte sein oder auch muslimische ÖsterreicherInnen – besonders stark spürbar. Es scheint ein Bedürfnis nach Gegenidentitäten zu geben. Angenommen, die von Ihnen geforderte Selbstsuche wäre weiter fortgeschritten: Gäbe es dann weniger Rassismus im Land?

Johnston: Das wäre ein guter Vorschlag. Die Neigung mancher Österreicher, ein Feindbild der "anderen" aufrecht zu erhalten, um sich selbst zu definieren, kann durch die Beschäftigung mit der eigenständigen österreichischen Definition, mit der Tradition als Vielvölkerstaat, geschwächt werden. Es wird ein langer Prozess sein. Aber jeder Schritt lohnt sich. Und mit den Jahren kann man hoffen, dass die Tendenz, Gegenfiguren zu pflegen, abnehmen wird. (Maria Sterkl, derStandard.at, 21.10.2009)