Die ÖVP hat eine Erleuchtung gehabt und kann nun auch dem Projekt Ganztagsschule etwas abgewinnen. Höchste Zeit. Denn unsere derzeitige österreichische Schule ist ihrem Wesen nach immer noch eine Anstalt für wohlbehütete Bürgerkinder. Sie setzt stillschweigend voraus, dass hinter jedem Kind eine funktionierende Familie steht. Eine Mama, die bei den Aufgaben hilft. Ein Papa, der genug Geld verdient, um alles zu kaufen, was das Kind für den Schulalltag braucht. Und wenn eine solche Mama und ein solcher Papa nicht zur Verfügung stehen? Dann hat das Kind eben Pech gehabt. Ein Pech, das wir uns allesamt eigentlich nicht leisten können.

Seit September geht unser Lukas in die Schule. Seine Ausrüstung, laut Liste angeschafft, lässt nichts zu wünschen übrig. Ein kleineres Grafikatelier ließe sich damit ausstatten. Weit entfernt die Zeiten, als Griffel und Schiefertafel es tun mussten. Ausflüge und Exkursionen kosten natürlich extra. Lukas hat bildungsbewusste Eltern, die darauf schauen, dass ihr Schulkind seine Sachen beisammen hat und pünktlich seine Aufgaben macht. Hätte er diese nicht, wäre das Chaos nicht weit. Denn wenn ein Kind einmal aus der Schulordnung rausfällt, ist es schnell out. Und es ist verdammt schwer, wieder den Anschluss zu finden, schon in der Volksschule und erst recht in der höheren Schule.

Aus diesen Chaos-Kindern rekrutieren sich jene zwanzig Prozent Jugendliche, die nach der Pflichtschule nicht sinnerfassend lesen können. In vielen Unterschichtfamilien, durchaus nicht nur bei Migranten, ist einfach niemand da, der sich um die Hausaufgaben der Kinder kümmert. Oft gibt es nicht einmal einen ordentlichen und nicht vollgeräumten Tisch, an dem diese in Ruhe arbeiten können. Niemand, der die Mitteilungen der Lehrer liest und in der Schule nachfragen kommt. Und erst recht niemand, der das Geld für teure Nachhilfestunden hat.

Viele Lehrer klagen, dass die Eltern bei der Kindererziehung versagen. Die Schule könne nicht die Aufgaben des Elternhauses übernehmen, sagen sie, und neben dem Unterricht auch noch für Ordnung, Pünktlichkeit und Pflichtbewusstsein sorgen. Aber wer dann? Wenn wir nicht wollen, dass ein erheblicher Teil der Jugendlichen praktisch unerzogen aus dem Bildungssystem herauskommt, dann führt an der Ganztagsschule kein Weg vorbei.

In der Ganztagsschule, wie es sie anderswo längst gibt, werden die Hausaufgaben in der Schule gemacht. Die Schulsachen bleiben in der Schule, die Lehrer kontrollieren, dass sie in Ordnung sind. Die Lehrer und Lehrerinnen essen gemeinsam mit den Schülern zu Mittag. Höflichkeit und Tischmanieren gehören zum normalen Schulbetrieb. Man lernt anständiges Benehmen und eine gewisse Lebenskultur genauso wie Lesen und Schreiben.

Wenn die Kinder nach der Schule in funktionierende Familien zurückkehren, umso besser. Aber wenn nicht, bedeutet das nicht notwendig, dass sie in ihrer Bildungskarriere scheitern. Die Schule fängt auf und kompensiert, was zuhause fehlt. - Unser Erstklassler Lukas wird, dank seiner Eltern, seinen Weg machen. Aber es wäre schön, wenn auch alle anderen Erstklassler diese Chance bekämen. (Barbara Coudenhove-Kalergi, DER STANDARD, Printausgabe, 20.10.2009)