Twitteratur? Ja: Twi-tte-ra-tur gibt's wirklich. Zumindest, wenn man sich auf den Duden stützt und im Szenesprachen-Wiki nachschlägt. Dort wird der Begriff Twitteratur nämlich als Zusammensetzung aus den beiden Wörtern Twitter und Literatur beschrieben und bezeichnet "literarische Texte, die über das Microblogging-System Twitter gepostet werden." Twitteratur ist aber mehr als nur das, denn Twitteraten arbeiten nicht ausschließlich innerhalb des Kurznachrichtendienstes, sondern versuchen die unendliche Fülle an Textmaterial, die täglich von Usern produziert wird, auf unterschiedliche Weise zu verarbeiten.

Link:
http://szenesprachenwiki.de/twitteratur

Screenshot: Szenesprachen-Wiki

Was laut Duden auf Englisch auch Twiction genannt wird, hat also die buntesten Ausformungen - alle im Ausmaß von 140 Zeichen und weniger, versteht sich. Mit Kürzesttexten wie beispielsweise Relationships today aren't working sprechen sich kommerzielle Unternehmen wie der Buchhandelsriese Amazon aber nicht gegen den Hype um Online-Freundschaften à la Facebook und Followers à la Twitter aus, sondern werben unter dem Label TwitterLit für Neuerscheinungen in ihrem Programm.

Link:
http://twitter.com/TwitterLit

Screenshot: TwitterLit

Das Twitter-Konto von TwitterLit kommuniziert täglich ein bis drei Mal die ersten Zeilen von neuen Büchern in das Online-Universum und verlinkt dazu auf das dazugehörige Bestellformular bei Amazon. Anzulesen sind Romane, die mit den wenig hoffnungsvollen Worten I've decided that life is a bit like a standardized test beginnen oder Sachbücher, die bereits zu Beginn der Lektüre wahre Erkenntnisse im Stil von Red Island, paradoxically, is neither red nor an island versprechen. TwitterLit gib es auch als Kinderbuch-Variante mit dem Titel KidderLit.

Link:
http://twitter.com/kidderlit

Screenshot: TwitterLit

Nicht in der Kürze sieht der rumänische Student Andrei Gheorghe die Würze seiner Arbeit auf und mit Twitter. Im Gegenteil: er hat eine Software geschaffen, die verschiedenste Tweets so miteinander kombiniert und ordnet, dass sie sich reimen. Seit Juni des laufenden Jahres ist dadurch ein "automatisiertes Gedicht" von insgesamt mehr als 450.000 Versen entstanden. Zu finden ist der immer länger werdende englischsprachige Text mit Paarreimen am Ende jeder Zeile auf der Website des Entwicklers.

Link:
www.longestpoemintheworld.com

Screenhshot: The Longest Poem in the World

Sein Werk sei zunächst ein technisches Experiment, sagte der 22- jährige Informatik-Student aus Bukarest in einem Interview. Das Ergebnis sei stellenweise "interessant, manchmal amüsant, oft auch banal". Auf manchen Blogs werde das Riesengedicht, das täglich ganz ohne menschliches Verseschmieden um 4.200 Zeilen wächst, schon als "kollektive Poesie" bezeichnet.

Link:
http://twitter.com/thelongestpoem

Screenshot: The Longest Poem in the World

Wieder einen anderen Weg gehen die beiden Entwickler Amy Hoy und Thomas Fuchs, die mit ihrem Visualisierungsinstrument Twistori versuchen, etwas Ordnung in den übervollen Twitteralltag zu bringen. Lieben, hassen, denken, glauben, fühlen und wünschen sind jene lebensweltlichen Parameter, nach denen User sich den ständigen Informationsfluss auf Twitter automatisch filtern lassen können.

Link:
http://twistori.com

 

Screenshot: Twistori

"Aufgrund der häufigen Nachfrage", so die beiden Betreiber des Online-Werkzeugs, gibt es Twistori mittlerweile auch als Desktop-Version, die erlaubt, Twitternachrichten nach eigenen Schlagwörtern zu filtern. Diese personalisierte Version, die mitunter an das Service Twitterfall erinnert, ist allerdings ausschließlich für Mac-User erhältlich.

Link:
http://twistoridesktop.com

Screenshot: Twistori

Dass Twitter aber nicht nur von Literaten im herkömmlichen Sinn wie beispielsweise dem britischen Autor Steven Fry (via bild.de) oder dem Brasilianer Paolo Coelho (via netzzeituntg.de) bevölkert wird, um ihre Textkunst zu zwitschern, beweisen Kontos wie etwa das der Künstlerin Jenny Holzer. Mit ihren Truisms genannten Weis- und Wahrheiten in Textform hat sie es immerhin auf eine beachtliche Summer von knapp 12.000 Followers geschafft.

Link:
http://de.wikipedia.org/wiki/Jenny_Holzer

Screenshot: Twitter / Jenny Holzer

Ob das Jenny-Holzer-Konto jedoch auch wirklich von der Künstlerin selbst betrieben wird, ist nicht sicher. Immerhin finden sich auf Twitter auch zahlreiche weitere Künstlerkollegen wie etwa der bereits verstorbene britische Schriftsteller Edgar Allen Poe, der japanische Konzeptkünstler On Kawara oder der deutsche Dada-Künstler Kurt Schwitters, der mit seinen Lautgedichten die Twittercommunity beglückt.

 

Link:
http://twitter.com/jennyholzer

Screenshot: Twitter / Jenny Holzer

Nicht im Internet, sondern im Wohnzimmer verwenden die Künstler Rob Faludi, Kate Hartman und Kati London ihr Twitter-Konto. Gemeinsam haben sie das System Botanicalls entwickelt, das nach eigenen Angaben "neue Kommunikationskanäle zwischen Pflanzen und Menschen öffnet." Haben die Zimmerpflanzen Durst, melden sie sich über einen eigenen Twitterkanal - buchstäblich - zu Wort.

Link:
www.botanicalls.com

Foto: Botanicalls

DRINGEND. Gieß mich, Vielen Dank für's Gießen oder Du hast mich nicht genug gegossen heißt es da, wenn ansonsten vernachlässigten Pflanzen die Möglichkeit eingeräumt wird, mit ihren Besitzern in Kontakt zu treten und ihre Bedüfnisse zu formulieren. Eine Selbstbauanleitung für das Öko-Twitter-System wird auch angeboten.

Link:
http://twitter.com/pothos

Screenshot: Twitter / Botanicalls

Als Textinstallation mit dem Titel rumor has it legt der Wiener Soundpoet Jörg Piringer seine Überlegungen zu Gerüchten auf Twitter an. "Aufgrund ihrer Verbreitung in Echtzeit", so der Künstler, "und aufgrrund ihrer Flüchtigkeit bieten sich Gerüchte an, um auf der Kommunikationsplattform verbreitet zu werden und sich zu verbreiten."

Link:
rumor has it (auf YouTube)

Screenshot: Jörg Piringer

Bei der Installation, die kürzlich im Wiener Museum auf Abruf zu sehen war, konnten Besucher selbst Hand anlegen und mit einer Schere einzelne Tweets modifizieren und zu einer brodelnden Gerüchteküche zusammenfügen. Auf selbstklebenden Bändern wurden bei Knopfdruck Tweets ausgedruckt, die das Wort rumor (Gerücht) beinhalten.

Link:
http://joerg.piringer.net

Screenshot: Jörg Piringer

Ähnliches Gemurmel nimmt auch Christopher Baker zum Ausgangspunkt für die Installation Murmur Study. "Selbst wenn man all diese Mitteilungen als 'digitalen Smalltalk' bezeichnen kann", so Baker auf seiner Website, "werden all diese vorbeiziehenden Gedanken von kommerziellen Unternehmen archiviert und indexiert. Was in Zukunft damit geschieht bleibt jedoch offen."

Link:
Murmur Study (auf Vimeo)

Foto: Colleen Ludwig / Christopher Baker

Christopher Bakers Installation besteht aus dreißig Thermodruckern, die Twitter regelmäßig auf Statusupdates abfragen und diese nach Gefühlsregungen im Stil von argh, meh, grrrr, oooo, ewww, and hmph scannen.

Link:
http://christopherbaker.net

Foto: Christopher Baker

Man sieht schon: die Bandbreite an Twitteratur ist groß. Wer sich über ihre Existenz immer noch unsicher ist, der kaufe sich eines der beiden Bücher zum Thema aus dem Penguin-Verlag. Beide versprechen "sechzig der wichtigsten Werke westlicher Literatur durch Twitter auf ihre Quintessenz zu destillieren": von Beowulf bis Bronte, von Kafka bis Kerouac, von Dostoevsky bis Dickens...

Link:
www.twitterature.us

(fair)

Screenshot: Twitterature.us