Christine Mitter: "'Derivatunfälle' haben gezeigt, dass der Einsatz falscher Absicherungsinstrumente das Risiko für Betriebe vervielfachen und zur Existenzgefährdung führen kann."

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derStandard.at: Die Verwerfungen an den Kapitalmärkten vor einem Jahr brachten nicht nur die Finanzbranche anständig ins Trudeln. Unternehmen generell sahen sich plötzlich mit den Mechanismen und Dynamiken der Finanzwelt stärker konfrontiert, als so manchem lieb war. Was hat sich seitdem grundlegend im Risiko- und Kapitalmanagement von Unternehmen verändert?

Christine Mitter: Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise hat gezeigt, welche dramatischen Auswirkungen lange für unmöglich oder unwahrscheinlich gehaltene Entwicklungen nach sich ziehen können. Dadurch ist das Bewusstsein für Risiken und Risikomanagement gestiegen. In einigen Unternehmen ist aber kaum bis kein Risikomanagement-Know-how vorhanden, beziehungsweise fehlen die entsprechenden Ressourcen für die Implementierung und Umsetzung eines geeigneten Risikomanagementsystems. Die große Herausforderung liegt daher darin, auch in diesen Unternehmen so rasch wie möglich und trotz beschränkter Kapazitäten Verständnis für Risiken und den Umgang mit Risiken aufzubauen.

In Bezug auf das Kapitalmanagement mussten und müssen viele Betriebe Schwierigkeiten bei der Finanzierung ihrer Investitionsvorhaben feststellen. Daher ist das Liquiditätsrisikomanagement wieder stärker in den Fokus gerückt. Insbesondere die Bedeutung der Liquiditätssicherung in Extremsituationen und im Worst Case ist wieder bewusster geworden. Als Konsequenz ist die Dotierung entsprechender Liquiditätsreserven aufgestockt, sind auch unwahrscheinliche Szenarien stärker in die Planung miteinbezogen und ist die Liquiditätshaltung diversifiziert worden. Auch eine Tendenz zur Erhöhung der Anzahl der Bankverbindungen, um das Kontrahentenrisiko besser zu streuen, zeigte sich bei einer in unserem Fachbereich an der Fachhochschule Salzburg im Frühjahr 2009 durchgeführten Befragung deutscher und österreichischer Großunternehmen zur Bankensteuerung: Während sich in den vergangenen Jahren in Studien ein Trend zur Reduktion von Bankverbindungen abzeichnete, planen nun fast ebenso viele Unternehmen, und vor allem jene mit einer eher kleinen Zahl an Bankverbindungen, eine Erhöhung der Anzahl an Partnerbanken.

derStandard.at: Was die diversen Treasury-Instrumentarien betrifft: Ist hier ein Umschichten angebracht? Sind Produkte vom Markt verschwunden, ersetzt worden, haben welche an Bedeutung verloren?

Mitter: Durch das gestiegene Risikobewusstsein sollte die Nachfrage nach Treasury-Instrumenten zur Risikoabsicherung zunehmen, da eine Form der Risikobewältigung in der Absicherung durch finanzielle Transaktionen, dem so genannten Hedging besteht. Viele österreichische Betriebe mit Konzernverflechtungen nach und Tochtergesellschaften in Osteuropa beispielsweise waren vom Verfall osteuropäischer Währungen betroffen. Dadurch ist die Relevanz von Absicherungsstrategien und Währungsrisikomanagement vielen Unternehmen wieder bewusster geworden, was die Nachfrage nach Sicherungsinstrumenten wie Termingeschäfte, Forwards oder FX-Optionen erhöhen sollte.

derStandard.at: Sind nicht auch diese Instrumentarien im Zuge der Krise stark in die Kritik geraten?

Mitter: Ja, gerade die so genannten "Derivatunfälle" haben gezeigt, dass der Einsatz falscher Absicherungsinstrumente das Risiko für Betriebe vervielfachen und zur Existenzgefährdung führen kann. Auch die Finanzkrise ist darauf zurückzuführen, dass Subprime-Kredite verbrieft und "innovativ" gebündelt und immer wieder neu strukturiert wurden, bis sie bis zur "Unkenntlichkeit maskiert" als toxische Papiere in manchen Bankbilanzen landeten. Die Lehre aus diesen Unfällen und aus der Finanzkrise sollte keinesfalls ein genereller Verzicht auf die Absicherung von Risiken sein. Jedoch sollten Unternehmen ihre Risiken nicht mit komplexen, kompliziert strukturierten Produkten "hedgen", sondern auf einfache, verständliche und nachvollziehbare Instrumente, so genannte "plain vanilla"-Produkte (Anm. d. Red.: Der Begriff geht auf die Speiseeisherstellung zurück, bei der die Sorte Vanille die schlichteste und am einfachsten herzustellende Geschmackrichtung ist)  zurückgreifen. Aus diesem Grund werden komplex strukturierte, nicht nachvollziehbare Instrumente hoffentlich vom Markt verschwinden und die Nachfrage nach standardisierten "plain vanilla"-Produkten steigen.

derStandard.at: Kreditklemme - ein Begriff, der uns ebenfalls seit einem Jahr begleitet. Welche Möglichkeiten haben Unternehmen in der Liquiditätsplanung, wenn man nicht mehr leicht an Kredite kommt?

Mitter: Unternehmen und Banken berichten von gestiegenen Zinsmargen, reduziertem Kreditvolumen einerseits durch geringere Kredithöhen, andererseits durch Ablehnung von Kreditanträgen sowie von höheren Sicherheitserfordernissen und verschärften Covenants. Jedoch dürften nicht alle Kreditnehmer in gleicher Weise von einer restriktiveren Kreditvergabe der Banken betroffen sein. Große Unternehmen scheinen stärkeren Einschränkungen ausgesetzt zu sein als KMU. Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass Großbetriebe durch die verringerte Aufnahmefähigkeit des Kapitalmarktes kaum mehr Aktien und weniger Anleihen emittierten und so Kapitalmarktfinanzierungen durch Bankkredite zu ersetzen versuchten. Andererseits sind für Banken derzeit großvolumige und langfristige Finanzierungen schwieriger auf die Beine zu stellen, die ebenfalls eher von großen Unternehmen nachgefragt werden. Hier könnten die von der Republik Österreich zur Verfügung gestellten Staatsgarantien für Kredite Abhilfe schaffen, die Großunternehmen beantragen können.

derStandard.at: Welchen Spielraum gibt es abseits von Krediten?

Mitter: Alle Unternehmen selbst können auf die restriktivere Kreditvergabe mit verstärkter Innenfinanzierung reagieren. Eine Form der Innenfinanzierung ist die Einbehaltung von Gewinnen. Da die Wirtschaftskrise in vielen Unternehmen zu sinkenden Gewinnen oder gar zu Verlusten geführt hat, ist dieses Innenfinanzierungspotenzial jedoch stark eingeschränkt oder nicht mehr vorhanden. Aus diesem Grund sollten Unternehmen ihr Working Capital Management intensivieren. Ein hoher Bestand an Vorräten und Forderungen bindet Kapital. Durch eine Reduktion der Lagerhaltung, eine Erhöhung der Durchlaufzeiten und des Kapitalumschlags sowie eine Senkung der durchschnittlichen Außenstandsdauer der Forderungen, eventuell gepaart mit einer Ausdehnung der Zahlungsziele der eigenen Verbindlichkeiten, kann der Kapitalbedarf in vielen Fällen deutlich gesenkt werden.

derStandard.at: Viele befürchten ja, dass die Praktiken der "Vor-Finanzkrisen-Ära" wie Mega-Boni, hoch-risikobehaftete oder unverständliche Finanzprodukte wieder in Mode kommen, man nichts aus dem Schaden gelernt hat. Glauben Sie, dass Unternehmen vorsichtiger geworden sind, was Renditeversprechen und Risikoprognosen angeht?

Mitter: Kurzfristig denke ich schon, dass die Unternehmen vorsichtiger geworden sind und momentan skeptischer auf Renditeversprechen und Gewinnprognosen reagieren. Langfristig wird jedoch wieder die vielzitierte Gier durchschlagen, da sie dem Homo Oeconomicus immanent ist. Ein rationaler Investor wird sein Geld dort anlegen, wo es am meisten Rendite bringt. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Renditen im Realgeschäft deutlich niedriger sind als jene, die mit Finanztransaktionen zu erzielen sind. Viele Industrieunternehmen haben in den letzten Jahren einen Großteil ihrer Ergebnisse aus Finanzgeschäften lukriert. Da die von Investoren geforderten hohen Zielrenditen nicht aus dem Realgeschäft zu erzielen sein werden, werden Unternehmen und Investmentbanker wieder Risiken eingehen, um die Renditeerwartungen zu erfüllen.

derStandard.at: Was ist dabei von den Ergebnissen des G20-Gipfels zu halten? Wird es eine "Neuordnung" der Finanzwelt geben?

Mitter: In Bezug auf die Finanzwelt haben sich die Staats- und Regierungschefs in Pittsburgh auf strengere Regulierung der Finanzmärkte verständigt. Vielfach hat man sich jedoch nur grundsätzlich geeinigt, bei der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung und Umsetzung bestehen noch Diskrepanzen und unterschiedliche Vorstellungen. So hat beispielsweise die Finanzmarktsteuer nicht den notwendigen Konsens gefunden. Ich würde hier noch nicht von einer "Neuordnung" der Finanzwelt sprechen. Man hat sich in vielen Fragen nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bzw. Mindeststandards geeinigt. Es wird sich zeigen, inwieweit in Zukunft nationale Interessen über Bord geworfen werden (können), um tatsächlich eine schlagkräftige grenzübergreifende Finanzmarktkontrolle zu etablieren.

derStandard.at: Der Value at Risk (VaR) wird gemeinhin als "best-practice"-Modell angesehen. Wird es hier eine Anpassung, Umstellung geben?

Mitter: Der Value at Risk gilt heute als globaler Standard für die Kontrolle der Marktrisiken von Finanzinstitutionen und gehört auch in vielen internationalen Konzernen bereits zum Standardrepertoire für die Quantifizierung von Risiken. Seit seiner Etablierung Mitte der 1990er ist er als Risikomaß jedoch nicht unumstritten.

Der Value at Risk ermittelt den absoluten Wertverlust einer Risikoposition, der mit einer zuvor definierten Wahrscheinlichkeit, dem Konfidenzniveau, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes nicht überschritten wird. Sehr oft erfolgt die Analyse basierend auf historischen Daten und mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent, sodass mit einer doppelten Standardabweichung gerechnet wird. In diesem Fall misst der VaR lediglich "normale" Kursschwankungen, die aufgrund der Vergangenheitsdaten zu erwarten sind. Risiko-Werte mit einer Wahrscheinlichkeit von größer 95 bis 100 Prozent werden jedoch nicht berücksichtigt. Unwahrscheinliche, abrupte Änderungen, wie sie beispielsweise nach dem 11. September 2001 auftraten, lassen sich mit dem üblichen VaR-Ansatz nicht quantifizieren. Gerade diese Ereignisse treffen Unternehmen jedoch besonders und können mitunter fatale Auswirkungen haben. Diese Schwächen sind auch in der Krise offensichtlich geworden.

derStandard.at: Gibt es nun eine grundsätzliche Änderung bei der Bewertung der Marktrisiken?

Mitter: Es hat sich gezeigt, dass unwahrscheinliche Szenarien eintreten können und dass Märkte sich rasch ändern und damit eine hohe Volatilität aufweisen können. Auf diese Volatilität kann man im VaR durch die Einbeziehung höherer Schwankungsbreiten reagieren und ich vermute, dass dies in Zukunft zumindest für die Ermittlung von Stress-Szenarien erfolgen wird. Jedoch wird immer eine unbekannte Restgröße bleiben. Dies gilt es bei der Interpretation des VaR zu beachten. Die Quantifizierung über eine mathematische Formel mag Sicherheit suggerieren, jedoch kann auch eine drastische Erhöhung des Konfidenzintervalls die Auswirkung bestimmter Katastrophenereignisse nicht erfassen.

derStandard.at: Haben Unternehmen überhaupt das entsprechende Know-how dafür?

Mitter: Genau das fehlt häufig, aber auch personelle Ressourcen für derartige Berechnungen. Zudem ist gerade bei kleineren Unternehmen das Kosten-Nutzen-Verhältnis derartiger Berechnungen zu beachten. Da selbst Großunternehmen nur beschränkte Kapazitäten im Treasury aufweisen, wird der Trend meiner Meinung nach daher zu einfacheren Methoden der Risikoquantifizierung gehen. So können Risikosimulationen in Planungsrechnungen integriert werden oder einfache Szenarioanalysen durchgeführt werden.

derStandard.at: Auch bei den Ratingagenturen hat die Finanzkrise ordentlich am Lack gekratzt. Was muss sich ändern, damit das Vertrauen in die Bewertungen zurückkehrt?

Mitter: Beispiele von Unternehmenszusammenbrüchen wie Enron oder auch die aktuelle Finanzmarktkrise zeigen, dass die Ratingagenturen das Downgrading von Betrieben oder Wertpapieren viel zu spät vornehmen, sodass auf deren Urteil kein Verlass ist. Neben offensichtlichen Mängeln in der Risikobewertung sind diese Fehleinschätzungen auf einen Interessenkonflikt zurückzuführen, da das geratete Unternehmen gleichzeitig Kunde der Ratingagentur ist. Hier könnte man mit einer unabhängigen Ratingagentur Abhilfe schaffen.

derStandard.at: Was ist in diesem Zusammenhang von Basel II zu halten?

Mitter: Die Basel II-Bestimmungen sehen vor, dass sowohl die Eigenkapitalhinterlegungspflicht der Banken als auch die Kreditkonditionen von der Bonität des Schuldners abhängen. Die Einschätzung der Bonität erfolgt anhand eines Ratings. Da die wenigsten Unternehmen über ein externes Rating verfügen, erfolgt meist ein internes Rating durch die Bank. Die Bankenkrise ist jedoch nicht auf Fehler im internen Rating von Unternehmenskrediten zurückzuführen, sondern resultiert aus dem Ankauf von - mit einem sehr guten externen Rating versehenen - verbrieften Forderungen, die sich im Nachhinein als wertlos und damit toxisch herausstellten.

Die Krise und die damit verbundene Verschlechterung von Unternehmenskennzahlen dürften jedoch die Bonität der Kreditnehmer negativ beeinträchtigen und so zu internen "Downgradings" bei den Banken führen. Da Basel II eine risikoadäquate Verzinsung vorschreibt, werden sich die verschlechterten Bonitätseinschätzungen daher in höheren von den Banken geforderten Margen niederschlagen und damit Kredite verteuern oder beschränken. (Daniela Rom, derStandard.at, 18.10.2009)