Der Graben zwischen Zuwanderern und "Einheimischen" erscheint oft als unüberbrückbar. Die Migrationsforschung versucht, Wissenslücken zu schließen.

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"Es gibt keine Enklaven, keine Parallelgesellschaften", stellt Barbara Herzog-Punzenberger fest. Das ist eine der Schlussfolgerungen, die die Migrationsforscherin aus den ersten Ergebnissen der europäischen Studie "Ties" ableiten kann. Ties steht für "The Integration of the European Second Generation" und hat zum Ziel, erstmals die Situation und Selbstwahrnehmung der zweiten Generation von Einwanderern mit standardisierten Verfahren zu ermitteln, und zwar in 15 Städten in acht europäischen Ländern.

Die ersten Resultate präsentierte Herzog-Punzenberger, Studienleiterin des österreichischen Teils, im Rahmen der internationalen Konferenz "Zwischenräume: Migration und die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten", die Ende vergangener Woche vom Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte (IKT) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veranstaltet wurde.

Dabei diskutierten Wissenschafter Fragen der kulturellen Auswirkungen auf Selbst- und Fremdbilder von Migranten wie "Einheimischen" sowie gesellschaftliche Phänomene der Pluralisierung und Hybridisierung von Identitäten und Kulturen. Ausgangspunkt war die Zwickmühle, dass Migration und Mobilität zwar als Grundsteine einer globalisierten Welt angesehen werden, die öffentliche Wahrnehmung von Migranten aber von Misstrauen geprägt ist - von Ängsten vor sozialen Konflikten, vor wirtschaftlichen Nachteilen, vor dem Verlust kultureller Werte.

Zumindest was die Lebenswelt von Zuwanderern der zweiten Generation betrifft, bringt die Studie Ties Licht in die diffusen Wahrnehmungen. In umfassenden Interviews mit Nachkommen von Türken, Ex-Jugoslawen und Marokkanern im Alter zwischen 18 und 35 Jahren wurden die wirtschaftliche und soziale Situation sowie Bildungsverläufe und Identifikationsprozesse wie Sprache, Familienbeziehungen, Geschlechterrolle, Religion und politische Partizipation erhoben. In Österreich wurden dazu mehr als 2000 Migranten der zweiten Generation in Wien, Linz und Vorarlberg befragt. "Es gibt nicht ,die Türken' oder ,die Jugoslawen'", fasst Herzog-Punzenberger die Ergebnisse zusammen. "Es gibt sehr unterschiedliche Muster in den verschiedenen Ländern und Städten."

Daheim in der Nachbarschaft

So variieren die Zugehörigkeitsgefühle sowohl zur Gesellschaft, in der die zweite Generation lebt, als auch zum Herkunftsland der Eltern stark. Dabei hat sich jedoch gezeigt, dass sich eine starke Zugehörigkeit zur Kultur, Sprache und Religion der Eltern nicht mit einer starken Bindung zur Lebensumgebung widerspricht.

Generell fühlen sich Angehörige der zweiten Generation zur lokalen Wohngegend am stärksten zugehörig, danach folgen Stadtebene und Nationalstaat. "Die zweite Generation ist zufriedener mit der Nachbarschaft als die ,einheimische' Vergleichsgruppe und hat ein höheres Verantwortungsgefühl ihr gegenüber", berichtet Herzog-Punzenberger. Das liege zum Teil daran, dass die Nachkommen von Migranten schon länger in der Nachbarschaft wohnen als gleichaltrige Nichtmigranten. Zudem würden mehr Bekannte und Verwandte in der Wohngegend leben.

"Es gibt aber keine Gegend, in der mehr als 40 Prozent der Menschen dieselbe Herkunft haben", sagt die Forscherin. "Es gibt also keine Türken-Ghettos." In keiner Stadt hätten mehr als 22 Prozent der Befragten angegeben, sich nur schwach zum Land, in dem sie leben, zugehörig zu fühlen.

"Die Situation der zweiten Generation ist so verschieden, weil sie in Interaktion mit der jeweiligen Gesellschaft aufgewachsen ist und ihre Identitätsbildung sehr stark von den Praktiken und der Politik vor Ort abhängig ist", betont Herzog-Punzenberger. Wichtigste Schlussfolgerung der vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Studie, deren Österreich-Bericht Ende dieses Jahres präsentiert werden soll, sei daher: "Migranten müssen das Gefühl bekommen, dass sie dazugehören, ohne ihre Herkunft verleugnen zu müssen."

"Bastelidentitäten"

"Bastelidentitäten", welche sich sowohl aus verschiedenen kulturellen Praktiken zusammensetzen, stellen neue Herausforderungen für die Identitäts- und Migrationsforschung dar, neue Migrationsformen wie die transnationale Pendelwanderung von Pflegekräften und andere Formen der temporären Arbeitsmigration müssten berücksichtigt werden - darin waren sich die Teilnehmer der kulturwissenschaftlichen Konferenz einig, während der auch die historische Dimension von Migration sowie der Einfluss in der Musik, Film und Literatur beleuchtet wurde.

Doch wie steht es mit der Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Migrationsforschung? "Es fehlt an Strukturen und an Systematik", bedauert Herzog-Punzenberger, die derzeit am Institut für Kulturwissenschaften forscht. Sie wünscht sich einen "Knotenpunkt, eine Metaebene für Planungen und Überlegungen". Gerade im Bildungsbereich, etwa in der Lehrerausbildung, gebe es hierzulande einen großen Bedarf.

Doch auch der umfassende Datensatz zur zweiten Generation, den die Ties-Studie liefert, harrt auf weitere Verwendung für tiefergehende Analysen: Bisher gebe es wenig Interesse daran. (Karin Krichmayr/DER STANDARD, Printausgabe, 14.10.2009)