Wer hat fotografiert? Mit wem war das Kind auf dem Spielplatz, auf dem jetzt ein Kindergarten steht, der bald abgerissen wird und den Platz freigibt, auf dem das Kind im Foto steht.

Foto: DER STANDARD

Das bin ich, schreie ich und tatsche meinen Finger dem armen Kind mitten ins Gesicht.

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Ein Mensch. Eine Nase, zwei Augen, Beine, ein Herz, eine Lunge, ein Geschlecht, ein kribbelndes Gefühl am Schulterblatt, eine Schwere in der Brust, eine Scham hinter den Wangen, eine Angst im Hals, nur damit sie nicht im Gesicht herumsteht. Eine Hoffnung im Blick, wenn man ihn ruft.

Ein Foto wird gemacht. Die Frau hebt die Hand und schirmt ihr Gesicht ab, sie ist nicht eitel. Das schöne Mädchen vergisst den Aufruhr im Kopf und im Bauch und lächelt, das Foto wird gelobt werden, und das Lob wird in den Sack mit dem Loch gesteckt werden zu dem anderen Klumpert. Man sieht sich ja so selten. Man sieht sich selber so selten, und wer weiß, ob nicht alle Spiegel lügen, sich verschworen haben oder einfach nicht gleichgültig genug sind, so wie das dumme Foto, das sich nichts denkt, keinem Befehl gehorchen will, keiner Idee, die man hat. Das Foto, das nicht glauben will, dass man aussieht wie Jane Fonda oder ein Cowboy oder wenigstens, dass man eine Härte im Auge hat. Nein. Das vor Bitten und Wünschen triefende Auge bleibt groß und feucht.

Und die Nase zu kurz, und die Frisur unmöglich.

Was ist die Kunst? Was ist die beste Kunst? Die beste Kunst ist, so auszuschauen wie ein Foto in einem Magazin. Die beste Kunst ist es, sich in eine Keksform hineinzubekommen und lange genug auszuharren dort drin im Stacheligen, dass sich die alten Formen nicht wieder einstellen. Wie man erschrickt über das feuchte Auge und die Haare, die keine Frisur bilden. Ein unmöglicher Mensch. Ein unmöglicher Mensch im Bild. Viel zu nahe dran an allem, was man vergessen will.

Fotos, auf denen ich glücklich aussehe, schön, abgesichert, hebe ich auf. Ich klebe sie in ein eigenes Fotoalbum, ich zeige sie Besuchern. Und wenn die Besucher mir glauben, was sie sehen, dann glaube ich es auch wieder ein bisschen. Ich bin eine Wasserschiläuferin, denke ich mir. Eine Reiterin. Eine fröhliche Freundin unter Freunden. Ich bin etwas, denke ich mir. Ich verschwimme nicht vor meinem eigenen Blick, ich habe Substanz, denke ich mir. Ich kann mich anschauen, so wie die anderen mich anschauen, und hinter dem bedruckten Papier ist nichts. Ich bin leicht. Ich werde nicht alt.

Das bin ich, schreie ich und tatsche stolz mit dem Finger auf das Bild eines unschuldigen Kindes mit Bär. Das bin ich, schreie ich und tatsche meinen Finger dem armen Kind mitten ins Gesicht.

Das bist du nicht, muss ich mich selber missmutig maßregeln. Das warst nie du. Grummle ich mir in den Bart. Das ist gar nicht mehr wahr. Und du bist mittlerweile etwas ganz anderes. Schau dir doch die runden Augen an. Schau dir doch die schmalen Schultern an.

Das bin gar nicht mehr ich. Ich bin darauf nicht mehr zu erkennen. Ich erkenne mich darauf selbst nicht mehr. Vor zehn Jahren habe ich mich noch erkannt. Ich habe den Jemand auf dem Foto mit mir mitgetragen. Er hat sich erkannt und begrüßt. Dinge sind ihm eingefallen, die dem ich auf dem Foto damals noch durch den Kopf gegangen sind. Ich habe noch gewusst, ob der Pullover kratzig war oder nicht. Ich hatte ein Gefühl zu meinem Hintergrund. Ich konnte in Gedanken über den Rahmen des Fotos hinaus in eine Umgebung gehen. Ich wusste, was mein Körper auf dem Foto verdeckt. Jetzt ist es nur mehr ein Hintergrund. Ein Spielplatz aus einer Zeitung, ein Kind aus einem Fotoalbum. Nicht einmal sonderlich sympathisch. Wir haben uns wohl auseinandergelebt. Wir zwei.

Wer hat fotografiert? Mit wem war das Kind dort auf dem Spielplatz, auf dem jetzt ein Kindergarten steht, der bald abgerissen wird und damit den Platz freigibt, auf dem das Kind auf diesem Foto steht. Auf Füßen. Von denen man ausgehen kann, auch wenn sie auf dem Foto nicht abgebildet sind. Sie hängen da unten in der Luft. Es gibt sie nicht mehr.

Ein Kind mit einem Bären im Nachthemd.

Das ganze große Dunkle ist nur noch zu erahnen. Das hier und jetzt. Das Stimmengewirr der Dinge um mich herum. Das Jammern des ewig unglücklichen Bären. Das bereitwillig freudige Lachen für die Kamera. Immer in Erwartung, aber nie ganz sicher. Meine runden Arme, meine braven Hände, die ich lange anschauen konnte, erstaunt über ihre Existenz und die Ungeheuerlichkeit, dass ich sie bewegen kann, wenn ich will. Damals waren mir sogar meine Hände Attraktion. Ich war mir wohl neu.

Ein Bär im Nachthemd. Ein unglücklicher Bär. Obwohl er noch nichts weiß vom Unglück der Welt. Er spürt schon was.

Ein melancholischer Bär

Ein etwas melancholisch veranlagter Bär und ich, die ich versuche ihn aufzumuntern und insgeheim ja weiß, dass das nicht zu schaffen ist, dass es nur unter Umständen und nur mit viel Glück zu schaffen sein kann, wenn ich mich ihm aufopfere, nur noch an ihn denke, ihn nicht aus den Augen lasse, ihm seinen Gott spiele, aber dazu bin ich zu klein und zu klug. Ich weiß schon, dass dem Bären nicht zu helfen ist. Aber was soll's, ich tue mein Bestes.

Nach außen hin habe ich mich als Kind verkleidet, zu sehr viel mehr reicht mein Talent noch nicht, und Verkleidung muss sein. Was sollten die anderen sonst mit mir anfangen, sie wüssten sich gar nichts anzufangen mit mir. Ich drehe mich zum Fotoapparat und lache, weil man auf den Fotos lachen soll. Weil Kinder, fröhliche Kinder, die Kinder aus den Büchern, die alten Menschen und Eltern Freude bereiten, immer lachen sollen, besonders auf Fotos, und auch wenn ich es sonst nicht immer schaffe und aus den Augen verliere, so kann ich es für das Foto doch leisten. Das ist nicht zu viel verlangt, und obwohl der Abend schon kommt und viele Vögel nicht mehr heimfinden werden im Dunkeln und die Mutter in der Dämmerung, ohne es zu merken, in Gefahr gerät, kann ich noch lachen, auch wenn dort irgendwo in Höfen Kinder sitzen, einen Vogel auf dem Fuß, und umsonst auf ihre Mütter warten, und hinter den Fernsehbildschirmen sich ungeduldig Ungeheuerlichkeiten zusammenbrauen, sich vorbereiten für unser Wohnzimmer und mein Bett mich zu Tränen rühren wird, schaffe ich es doch, weil es ist nicht zu viel verlangt. Nichts ist zu viel verlangt. Ich stelle mich der Übermacht. Meine Schulter dreht sich nicht ganz zum Fotografen um. War das zu viel verlangt? Erinnert sich meine Schulter an das Foto?

Die Wölfe sitzen in ihren Ecken und warten auf ihren großen Augenblick, ihren Durchbruch, aber der Ausgang ist ungewiss. Vielleicht werden sie es nicht schaffen. Sie sind gefährliche, aber bezwingbare Feinde. Ich liege im Bett und betrachte meine Hand. Ich kann sie bewegen, wenn ich will, und meine Mutter tut so, als würde sie aus dem Märchenbuch vorlesen, dabei weiß ich genau, dass sie nicht lesen kann, sie tut nur so. Sie spricht schnell und ohne Ausdruck und hält den Blick auf das Märchenbuch gerichtet und tut so, als ob sie lesen würde.

Mein Vater ist irgendwo und kann selber auf sich achten. Nur meine Mutter, die gar nicht merkt, wie die Zimmerecken auf sie lauern, und die nicht einmal lesen kann, um sich wenigstens damit zur Wehr zu setzen, sitzt ungeschützt im Kinderzimmer, und ich denke, ich werde für sie beten. Schaden kann es nicht, weil wenn ich die Augen schließe, dann kommen die Traurigkeiten und die Würger und würgen meine Mutter neben dem Schwimmbecken so lange, bis sie laut schreit. Ich wache auf, und die Mittagssirene hilft meiner Mutter beim Rufen. Keine Angst, ich bin zur Stelle. Ich werde tun, was ich kann. Trotz meiner Verkleidung und dem lästigen Bären, der mir ein Klotz am Bein ist und seit Tagen nicht aus dem Nachtgewand kommt.

Ich bin kein Kind, ich bin kein Mädchen, ich bin kein Bub, ich bin kein Bär. Ich nehme an ich, werde irgendwann Frau und Mutter sein. Das rechne ich mir an einer Hand aus. Die Tage werden kürzer werden, und die Abenteuer kleiner und die Traurigkeit bitterer, aber das kann ich mir jetzt noch nicht vorstellen. Vielleicht stimmt es auch nicht. Ich kenne mich nicht mehr. Ich sehe ein Bild von einem fremden, nicht einmal besonders sympathischen Kind. Es ist mittlerweile zu lange her.

Ich altes Kind

Ich habe keinen Fuchsbau. Ich habe keinen Pelz. Ich altes Kind. Ich trage eine vertrocknete, mumifizierte Kindheit in einer verschwitzten Hand. Und erkenne mich schon nicht mehr auf den Kinderfotos.

Manchmal kann ich mich noch erinnern, was hinter dem Lachen getarnt war. Ich wusste ja selber nicht genau, was es war, hatte keine Namen dafür, hätte es nicht sprechen können. Ich war mir nicht sicher, ob es überhaupt Namen dafür gibt.

Ich machte einen Eindruck.

Und nur zufällig, nur weil ich das Kind auf dem Bild einmal recht gut gekannt habe, muss ich mir keinen Eindruck von ihm machen. Muss das Kind mir nicht basteln aus mir. Muss ich mir keinen Menschen machen aus dem Bild. Nur auf den Bildern von sich selber sieht man sich selbst nicht. Was soll ich mir ausdenken zu diesem Kind, zu seinem Leben, was soll ich auf dem kleinen Raum hinter seinem Papierkopf pflanzen. Die Fakten werden gegen mich sprechen. (Kathrin Resetarits, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 10./11.09.2009)